Für mich und dich
Verena Raaflaub
Mit meinem Enkel Simon bummle ich suchend durch die Regale bei Coop. Er plaudert munter drauflos, erzählt: «Ich und Mama ich und Kevin ich und Herr Meier» Etwas tut weh in meinen Ohren. Haben wir nicht früher gelernt, dass zuerst der andere kommt? Ich kann das Erziehen nicht lassen und suche nach einleuchtenden Argumenten, ihm zu erklären, warum ich es heute noch so meine. In diesem Moment tönt aus dem Lautsprecher die bekannte Ansage: FÜR MICH UND DICH! Simon spitzt die Ohren, streckt keck und weise seine Nase und den linken Zeigefinger in die Luft, fuchtelt, strahlt mich mit spitzbübisch-triumphierenden Lächeln an und sagt: «Hörst du?» Das ist alles. Null zu eins für mich! Das Gleiche begegnet mir im Tram. Habe ich noch gelernt, dass man erst die Leute aussteigen und frei passieren lässt, erlebe ich es heute oft anders. Jetzt werden die Türen von aussen belagert, der Platz zum Aussteigen ist versperrt, es wird hineingedrängt, und schon thront jedes Kind, jeder Jugendliche selbstsicher und königlich auf einem Sitzplatz. Wer später, langsamer kommt, muss nehmen, was übrig bleibt, also die Stehplätze; egal ob dieser Mensch alt ist, behindert, schwanger es käme keinem der sitzenden Prinzen in den Sinn, seinen Platz jemandem anzubieten, der ihn dringend bräuchte. Wird mir je ein Platz angeboten, ist es immer von jungen Frauen, ich nehme das Angebot jeweils dankend an. (Die älteren Damen, die sich betupft bedanken und nicht sitzen wollen, werden durch ihr Verhalten auch nicht jünger und geben den Jungen ja gar keine Chance. Schade!) Das stimmt mich nachdenklich. Ich sehe, wie den Kindern jeder Wunsch erfüllt, wie ihr Bedürfnis augenblicklich gestillt wird. Später tut man alles für sie, nimmt ihnen vieles ab, überschüttet sie, bis sie sich in ihrem Zimmer nicht mehr frei bewegen können. Sie sollen auf nichts warten oder verzichten müssen. Da gibt es die schöne Geschichte eines befreundeten Grossvaters: Er stand mit seiner Enkelin in einem Geschäft, irgendwo schrie ein anderes Kind. Da meinte die Kleine: «Grossvati, was het äch das Ching nid übercho?» So helfen wir mit, eine Ego-Gesellschaft heranzuzüchten. Wohin das führt, können wir heute in der Wirtschaft beobachten. Jeder schaut nur für sich, scheffelt möglichst schnell möglichst viel auf die Seite, sichert sich eine gute Abgangsentschädigung – nach mir die Sintflut. Ich beobachte, wie «zu viel ICH» sich breit gemacht hat. Alle streben nach Erfüllung ihrer Bedürfnisse, um zu einem reichen Leben zu gelangen. Dabei kann der Individualismus aber zu weit gehen und uns unglücklich machen, weil wir uns immer mehr von unserer Einheit mit allen anderen Lebewesen entfernen. Beziehungen verkommen zu Bedürfnisbefriedigungs-Institutionen. In der modernen Welt stellt das Gefühl von Getrenntsein oder Isoliertheit eine grosse Bürde dar, die uns Symptome wie Unsicherheit, Ängste, Depressionen, ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Alleinsein bereiten können. Wir müssen auch in ständiger Kampfbereitschaft sein. So was von anstrengend! Wir haben es mit unserer auf Individualismus gegründeten westlichen Denkweise weit gebracht, sind wohlhabend und fett geworden. Der Preis ist der psychisch-spirituelle Bankrott, in dem wir uns zurzeit befinden. Von der Wissenschaft erfahre ich, dass die Erde sich etwa vor fünf Milliarden Jahren gebildet hat, wir jetzt ungefähr in der Hälfte sind, und sie in weiteren zirka fünf Milliarden Jahren verglüht sein wird. In der Zeit bis jetzt haben wir Menschen uns über Einzeller, primitive Wesen zu archaischem, mythologischem und mentalem Bewusstsein entwickelt. Wir sind zu sozialen, mitfühlenden, verantwortungsvollen, liebenden Wesen geworden, zu dem, was uns von den meisten Tieren unterscheidet. Könnte es sein, dass sich viele Menschen mit der extremen Individualisierung, der reinen Ich-Fixierung, dafür entschieden haben, mit dem langsamen Sterben der Erde auch in ihrer Entwicklung zurückzugehen zu ihren animalischen Bedürfnissen? Könnte es sein, dass unsere Gattung, die soziales Engagement, immaterielle Werte wie Zeit und Mitgefühl, Freude und Dankbarkeit hochhält, die sich als Teil eines grossen Systems erfährt und geborgen fühlt und weiss, dass jeder Gedanke und jede Handlung einen Einfluss auf alles hat, am Aussterben ist? Vielleicht zeigt man in ein paar hundert-tausend Jahren die Show «Walking with socialized human beings», den sozialisierten menschlichen Wesen aus einer längst vergangenen Zeit (sicher haben Sie schon vom grossen Live-Spektakel «Walking with Dinosaurs» im Hallenstadion gehört). Und vielleicht werden sich dann die Dinosaurier erstaunt und amüsiert die Augen reiben. Was es doch alles gab auf Erden! Verena Raaflaub (1943) ist Körpertherapeutin, Psychologische Astrologin, Co-Leiterin und Therapeutin der Herberge Häutligen und lebt in Bern. Sie ist heute weniger aktiv im Arbeitsprozess, dafür gerne Grossmutter. Liebe Leserin, lieber Leser, möchten Sie etwas schreiben zu einem aktuellen Thema, das Ihnen wichtig ist und von dem Sie annehmen, dass es eine breitere Öffentlichkeit interessiert? Überraschen Sie uns mit Ihrer originellen Betrachtung, schicken Sie uns Ihren Text per Post oder E-Mail mit einigen persönlichen Angaben und einem Passbild. >
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