Die eigene Sicht auf Gott und die Welt
Für die gestern verstorbene Schriftstellerin Silja Walter war der Tanz ein Gleichnis für das Leben. Und gerade das Leben als Nonne im Kloster Fahr bei Zürich gab ihr den Rhythmus für ihr Schreiben vor.
Von Christine Lötscher Seit 1948, damals war sie 29 Jahre alt, stand Silja Walter jeden Morgen um 5?Uhr auf. Obwohl alles in ihr schreiben wollte – schreiben und tanzen –, hielt sie sich seit dem folgenreichen Entschluss, in ein Kloster einzutreten, voller Freude an die Tagesordnung der Benediktinerinnen im Kloster Fahr in Unterengstringen und Würenlos. Sie hatte ihre Heimat gefunden im «Kloster am Rande der Stadt». Viel Zeit zum Schreiben blieb nicht zwischen Gebet, Arbeit und Bibellesung. Dass sie gerade dies als tänzerischen Rhythmus für ein erfülltes Leben auffasste, machte nicht nur die Nonne, sondern ebenso sehr die Schriftstellerin Silja Walter aus. «Vor Jahren fiel mir ein, diesen Dreier-Tagestakt zu malen», heisst es in ihrem Essay «Der Tag ist das Leben», «Gebet rot, Arbeit blau, Lesung gelb.» Wer Silja Walters frühe Lyrik kennt, diese expressiven Gedichte, die voll wilder Sehnsucht nach dem Unbekannten streben, wird bei «Gebet rot» aufhorchen. Der Weg ins Kloster war auch literarisch kein Bruch, sondern die Wahl der richtigen Abzweigung an der Kreuzung. Als die junge Silja Walter von roten Sandalen, von Tanz und Taumel und vom Vergehen schrieb, hätte das Sehnen auch in eine weltlich-erotische Richtung gehen können. Doch im Rückblick ist klar, dass da nicht Undine, sondern eine Mystikerin am Werk war, die auch später nie auf Erotik in der Sprache verzichten musste. Im Gegenteil, das «Hohelied der Liebe» war in dieser Hinsicht ein starkes Vorbild. Silja Walter wurde 1919 in Rickenbach bei Olten in eine gutbürgerliche und tiefreligiöse Verlegerfamilie geboren und wuchs zusammen mit acht Geschwistern auf. Sie blieb nicht die einzige Schreibende in der Familie: Ihr um neun Jahre jüngerer Bruder Otto F. Walter sollte zu einem der grossen Schweizer Autoren der Nachkriegszeit werden. Rückblickend sieht der Weg von der jung gefeierten Lyrikerin Silja Walter zur lebensweisen Schwester Hedwig wie eine schnurgerade Lebensstrasse ohne Abzweigung aus. Doch damals, als die 29-Jährige ihrem 20-jährigen Bruder Otto F. Walter nach einer geglückten Lesung ihren Entschluss mitteilte, war es für ihn «ein ungeheurer Schock». Den Schmuck abgelegt Noch Jahrzehnte später, im legendären Radiogespräch der beiden schreibenden Geschwister, erinnerte sich Otto F. Walter lebhaft an den Abend: «Ich ging also zu jener Lesung im Café Huguenin, Bahnhofstrasse, und war hingerissen. Ich erlebte sie das erste Mal so in der Öffentlichkeit. Ich bewunderte meine Schwester, ich fand sie auch schön – sie trug übrigens Schmuck, und nach der Lesung gingen wir durch die Stadt zusammen. Sie wohnte im Hotel Central. Ich begleitete sie noch, und also in jener Nacht, um etwa halb zwölf, sagte sie zu mir auf der Brücke zum Central: Übrigens, du, ich gehe morgen ins Kloster. Sie begann, Stück für Stück ihren Schmuck abzulegen . . .» Durch das Schreiben blieb die Verbindung trotz spärlicher Kontakte bestehen – und nicht nur die Verbindung zum Bruder, sondern auch die Verbindung zur Welt ausserhalb der kontemplativen Insel an der Limmat. Schreiben, sagte sie denn auch in besagtem Radiogespräch, sei für sie ein Melden-Müssen: «Das Kloster ist für mich eine Entdeckung, nicht das Kloster Fahr als Raum, nein, vielmehr das Phänomen Gott und das Menschsein in diesem Raum drin. Ebendies möchte ich, ja, muss ich, immer und immer wieder neu formulieren. Dies ist immer neu der Anstoss für mein Schreiben.» Undogmatischer Katholizismus In ihren Gedichten, Prosatexten und Stücken – sie nannte sie «Spiele» – suchte sie immer neu nach einer Sprache für das, was sie in ihrer Welt erlebte. Vom dogmatischen Katholizismus war sie Lichtjahre entfernt. In einer Zeit, in der eine Nonne in erster Linie als exotisches Wesen gilt, gab sie es nie auf, ein Stück von ihrer Sicht auf Gott und die Welt weitergeben zu wollen. Weil sie diese Haltung zu schätzen wussten und sie die eigenständige Klosterfrau bewunderten, lasen auch die diesseitigsten Leserinnen und Leser ihre mystisch-religiösen Texte; Silja Walter wurde ausserdem mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Denn ihr religiös geprägtes Schreiben ist nichts als die konsequente Fortsetzung der frühen Arbeiten, etwa der Zeilen aus dem Gedicht «Die Tänzerin», unübertroffen schön in Silja Walters Werk: «Ich wollte Schnee sein, mitten im August,Und langsam von den Rändern her vergehn,Langsam mich selbst vergessen, ich hätt Lust,Dabei mir selber singend zuzusehn.» «Jemand muss zu Hause sein, Herr, wenn Du kommst. Jemand muss Dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt.» Silja Walter, Schwester Hedwig Silja Walter ist gestern in ihrem 92. Lebensjahr gestorben.Foto: Sabina Bobst
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