95 Jahre und kein bisschen müde
Albert Hofstetter ist seit 75 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Er trat ihr zur Zeit der Fröntler bei. Heute Abend erzählt er im Volkshaus aus seinem Leben.
Von Carmen Roshard Die 75 Jahre SP-Mitgliedschaft scheinen Genosse Albert Hofstetter gut getan zu haben. Oder war es vielleicht doch sein «solider Lebenswandel», wie er augenzwinkernd erzählt, der ihn jung und fit bleiben liess? Wohl eher nicht, denn Albert Hofstetter war nicht immer «mustergültig», wie er sagt, sondern hatte manchmal «en Chläubi am Arsch», was so viel heisst wie «ich kam immer gerne ein bisschen später nach Hause als nötig». Als Gewerkschaftssekretär ging er nach getaner Arbeit gerne noch «eins schnappen». Er habe es mit seiner Frau sicher einfacher gehabt als sie mit ihm. Aber nach jeder «Chiflete» habe sein Ideli zu ihm gesagt: «Ich wett gliich kein andere.» Vor 15 Jahren ist seine Frau gestorben. Als der kleine Albert am 6. August 1915 als Frühgeburt an der Zentralstrasse 53 zur Welt kam, gab es noch kein elektrisches Licht, kein Radio und auch keine Badewanne. Nur zwei Petrollampen leuchteten in Stube und Küche. Immer samstags stellte ihn seine Mutter, ein deutsches Dienstmädchen aus Hohenzollern, mitsamt Schwester Anneli in eine grosse Emailschüssel und schrubbte ihre Körper mit dem Waschlappen «zu einem hygienischen Höchststand». «Geh in die Schweiz und such dein Glück mit einem Bähnler, Trämler oder Pöstler», hiess es damals. Deutsche Dienstmädchen waren begehrt, Ordnung und Reinlichkeit gefragt – nicht unbedingt Herzenswärme. Trotzdem genoss Albert eine herrliche Jugend. «Die Strasse gehörte uns, sie war unser Spielplatz.» Höchstens alle 30 Minuten mussten die Buben und Mädchen von der Strasse weg, weil ein Lastwagen Marke Saurer oder F. B. W. durchfahren wollte. Er selbst hat zeit seines Lebens kein Auto gesteuert. Wenns draussen regnete, spielte Albert «Meccano». Die Mutter hatte die Hosen an Als Primarschüler trug Albert blaue Turnhosen mit Gummizug und ein Leibchen. Unterhosen? Ein Fremdwort. Das war auch die Zeit, als er anfing, sich für Politik zu interessieren. Für seinen Vater hingegen, Fuhrmann Hofstetter, zählten nur Ross, Haber und ein sauberer Stall. «Das Schlimmste, das meinem Vater passiert ist, ist die Tatsache, dass jemand die Schule erfunden hat.» Nach der Arbeit ging Vater Hofstetter in die Beiz und trank. Nicht übermässig, aber auch nicht zu wenig. Mutter Hofstetter war eine aufgeweckte Frau und hatte in der Familie «die Hosen an». Albertli musste im Haushalt tüchtig mithelfen, denn Mutter Hofstetter ging als Putz- und Waschfrau morgens um sechs aus dem Haus und kam erst abends zurück. Täglich Schuhe putzen war Programm: abreiben, anstreichen, glänzen. Im Spähneln und Glänzen der Böden war Albertli ein Hirsch und hatte «wenigstens in dieser Beziehung» bei der Verwandschaft einen ausgezeichneten Ruf. In der Schule war er fleissig und hatte keine Schwierigkeiten, ausser im Betragen, da stand im Zeugnis ein «befriedigend». Worüber er heute fast ein bisschen stolz ist. Anfang der Zwanzigerjahre blickten viele Menschen im Westen in den Osten, wo 1918 die Russische Revolution tobte. Dieser Krieg weckte bei vielen Proletariern Hoffnung, die Kommunisten würden den bösen Kapitalisten endlich den Marsch blasen und die grosse soziale Gerechtigkeit einläuten. Während einiger Jahre lag dann «Der Kämpfer» in Familie Hofstetters Briefkasten. Der Chefredaktor dieses Blattes, Hermann Bobst, war Mitglied des Grossen Stadtrats und führte eine spitze Feder. Jeden Tag stürzte sich Albert auf die Zeitung. Das ist auch heute noch so. «Ohne Zeitung könnte ich nicht sein. Früher habe ich immer die Rubrik Unfälle und Verbrechen gelesen, heute habe ich mich gesteigert.» Sein jüngster Sohn sagt, der Tagi sei links. Der Vater meint: «Links ist für mich anders.» Kommunistische Methoden Nach der Schule machte Albert eine kaufmännische Lehre bei Séquin-Dormann an der Bahnhofstrasse. Jeden Tag bis 19 Uhr, samstags bis 17 Uhr. Irgendwann gabs Krach, und im Zeugnis stand hernach: «Der Lehrling eignet sich besser für eine Lehrstelle bei einer Verwaltung.» Gerne wäre er nach der Lehre ins Welschland, doch die Wirtschaftskrise verhinderte seine Pläne. Er fand in Zürich eine Stelle in einer Werbeagentur, und nachdem er mit ein paar Kollegen um Lohnerhöhung ersucht hatte, wurde er ins Chefbüro zitiert. Der alte Herr war in höchster Erregung und empfing den jungen Burschen mit den Worten: «Was Sie da gemacht haben, das sind Kommunistenmethoden.» 1935, gerade 20 geworden, trat Albert Hofstetter der Sozialdemokratischen Partei bei. Das war zur Zeit der Fröntler, die sich einen Sport daraus machten, Versammlungen der SP zu stören. Mit 21 war er Stimmenzähler im Wahlbüro. Albert hatte bereit drei WK hinter sich, als er am 2. September 1939 mit Tausenden von Wehrmännern in den Aktivdienst einrücken musste. An Pfingsten 1940 verlobten sich Albert und Ideli, und im August 1941 im alten Kirchlein Wollishofen heirateten sie. Ein Jahr später trat er als Kanzlist in den Dienst der VBZ. «Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, einem Gewerkschaftsbund beizutreten.» In der Gruppe Beamte des VPOD wirkte Hofstetter als Aktuar, 1957 dann als Gewerkschaftssekretär. «Als Visitator (Schulpfleger) wurde ich von den Lehrern wie ein General behandelt, was mir peinlich war», erzählt er von seiner Zeit als Kreis- und Bezirksschulpfleger. 1958 bis 1966 war er Mitglied des Gemeinderats. Am 1.-Mai-Umzug nimmt er schon lange nicht mehr teil, «seit diese Wilden mitmachen». Über den Zürcher Stadtrat befragt, meint er: «Jeder versucht sein Bestes. Das eine gelingt, das andere nicht.» Der Odermatt mache es gut, und die Nielsen müsse er erst noch kennen lernen, sagt der Genosse. Von Corine Mauch habe er leider noch nicht viel Gutes gehört. Man sehe selbst nicht genug, und was in der Zeitung stehe, sei auch nicht immer das Wahre. «Mit dem Urteil nicht eile, höre vorerst beide Teile» ist eines seiner Lieblingssprichwörter. «75 Jahre SP-Geschichte werden lebendig» Veranstaltung mit Albert Hofstetter. Heute im Volkshaus, Gelber Saal, 19h. «Ich war nicht immer mustergültig und kam oft gerne ein bisschen später nach Hause als nötig.» Albert Hofstetter Genosse Albert Hofstetter in seiner Wohnung in Witikon. Er haut noch immer in die Tasten seiner alten Continental-Schreibmaschine. Foto: Doris Fanconi
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