Nordlichter am Himmel
Der Herbst in Island hat ungefähr drei Tage gedauert. Wenn man jetzt über die schwarze Vulkaninsel fliegt, sieht man nur noch eine weisse Einöde. Die Berge um Reykjavík sind schon seit Wochen schneebedeckt. Seit Montag liegt nun auch in der Hauptstadt Schnee. Die Nächte werden länger, sind aber oft sternenklar. In vierzig Minuten ist man nachts in den Bergen. Man braucht jetzt selbst mit dem Landrover Schneeketten. In dicken Daunenjacken mit fellbewehrten Kapuzen, mit dicken Handschuhen, Wolldecken, Schokolade, Thermoskanne mit Löwenzahntee und einem zehnjährigen Noval Tawny Port ausgerüstet, setzt man sich dann auf die festgefrorenen Schneewächten am Hügelkamm über einem vereisten Bergsee, schaut in den sternenübersäten Nachthimmel, lässt sich einen lautlosen Polarwind sanft ums Gesicht säuseln und wartet auf die Nordlichter. Wenn es zu kalt wird, steigt man zum schwarz gefrorenen See ab, bricht sich kleine Eisschollen los, die sich am Ufer tortentellergross weggesprengt und übereinandergelegt haben, holt etwas aus und lässt sie wie ein tief fliegender Diskus schwungvoll drehend über das Eis schiefern und hört zu, wie sie noch lange, wie eine leicht klirrende, immer leiser werdende Glasharfe, in der unendlich scheinenden Schwärze des Sees in der Stille der menschenleeren Nacht dahingleiten. Dann schaut man wieder in den kalten Sternenhimmel und wartet auf die Nordlichter. Es beginnt ganz leicht, wie der Hauch einer Ahnung. Man ist sich nicht sicher, ist es eine Wolke, die sich über einem fernen Hügelzug bildet, sind es Schneeverwehungen, oder ist da gar nichts. Als Nächstes stellt man fest, dass das, was da fast nicht ist, leicht grünlich pulsierend schimmert. Dann geschieht das Gleiche über einer Bergflanke nebendran. Und jetzt beginnt der Himmel Licht zu versprühen, wie ein Zuckerstock, der in Zeitlupe abbrennt, wie ein nächtliches Ballett für die Sterne, als würden leuchtende Engel, die weder Zeit noch Raum empfinden, über den Himmel hinwegtanzen. Andreas ThielAndreas Thiel (zeitpunkt@bernerzeitung.ch) ist Satiriker in Reykjavík. >
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