Wovon reden wir?
Auch wenn man der vergangenen ideologischen Kämpfe längst überdrüssig geworden ist und einen Teufel tun wird, sie zu reproduzieren, so muss man doch feststellen, wie unscharf der Begriff «Schweiz» ist. Reden wir von den Institutionen? Den Verwaltungsprozeduren? Von ihrer Geschichte? Oder sprechen wir über die Menschen? Und über welche Menschen genau? Über jene, die hier leben? Die das schweizerische Bürgerrecht besitzen? Oder reden wir über die Topogra?e, die räumlichen Ausdehnung als solche, weil wenigstens die fassbar ist, ein seltenes Konkretum unter lauter Abstrakta? Aber was liesse sich über diese 41000 Quadratkilometer sagen? In welchem inneren Zusammenhang stehen das Schwarzbubenland und das Maggiatal, der sich in den Begriff «die Schweiz» fassen liesse? Entweder beschreibt der Begriff nichts, oder er beschreibt alles. In beiden Fällen aber ist er untauglich. Wo ist die Wirklichkeit hinter dem Begriff geblieben? Hat es sie überhaupt einmal gegeben? Es gab jedenfalls die Behauptung, dass ein Gespräch über die Schweiz eine bestimmte Idee zum Inhalt hat. Es ist schwierig, zu bestimmen, was der Inhalt dieser Idee gewesen ist, aber klar ist, wer sie vertrat. Politiker, die diese Idee regieren, Offiziere, die sie verteidigen, Wirtschaftsführer, die von ihr pro?tieren wollten, Kirchenleute, die an ihre christliche Bestimmung glaubten. Vertreten wurde diese Idee auch von jenen, die sie kritisierten, denn natürlich galt auch hier das dialektische Prinzip: Kritik ist die grösste Anerkennung. Politik, Armee, Kirche, Wirtschaft, Presse, Kultur: das liest sich in unseren Tagen wie eine Liste von Verlierern. Die einen haben die Glaubwürdigkeit, die anderen den Ein?uss, die dritten die Moral, den inneren Kompass oder alles zusammen verloren. Vielleicht gibt es die Idee «Schweiz» noch, aber es gibt bestimmt keine Hegemonie mehr darüber, welchen Inhalt diese Idee haben könnte. Ja, es gibt nicht einmal mehr einen Kampf um diese Hegemonie, eine Auseinandersetzung darüber, wessen Idee die richtige ist. Man kämpft zwar, aber der Kampf ähnelt eher jenem des Ertrinkenden gegen sein Untergehen. Leider wird diese Freiheit in der Deutung der Begriffe nicht genutzt. Für die meisten ist das beherrschende Gefühl unserer Zeit jenes der Unsicherheit, nicht die Freiheit. Was auch immer die Idee «Schweiz» beinhaltet, so wird sie schon morgen ihre Gültigkeit verloren haben. Oder haben uns die letzten Monate und Jahre etwas anderes gelehrt? Wir wissen seit einem halben Jahrtausend, dass sich die Erde um die eigene Achse dreht, und wir wissen, dass sie ihre Bahn um ein ?xes Zentralgestirn zieht. Und trotzdem sprechen wir immer noch vom «Sonnenuntergang». Ein halbes Jahrtausend hat nicht gereicht, unsere Sprache der Wirklichkeit anzupassen. Vielleicht gehört der Begriff «Schweiz» in dieselbe Kategorie wie «Sonnenuntergang». Eine Kategorie von Begriffen, die keine Erscheinung in der Wirklichkeit beschreiben, sondern die Sehnsucht nach einem Gefüge in einem unübersichtlichen System. Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun. Schriftsteller, lebt mit seiner Familie in Zürich. >
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