Berner TheaterpremiereWo ist der Sinn im Leben?
Der Premiere-Marathon von Konzert Theater Bern geht weiter. «Onkel Wanja» ist eine leidenschaftliche Reflexion über Lebenssinn und Klimakrise.

Donner grollt und Regen flutet die Bühne. Ab und zu erhellt ein Blitz die Dunkelheit und erlaubt einen Blick auf Sonja (Florentine Krafft) und ihren Onkel Wanja (Klaus Brömmelmeier), die, eingepackt in schwarzem Ölzeug, hastig ein Grab ausheben. Das wird kein gemütlicher Theaterabend.
Die Premiere von «Onkel Wanja» ist die dritte innerhalb von sechs Tagen, die Konzert Theater Bern in den Vidmarhallen auf die Bühne bringt. Applaus ertönt bereits vor Beginn der Vorstellung: Schauspielchef Cihan Inan persönlich begrüsst die 50 maskierten Personen auf der Tribüne zu dieser «Privatveranstaltung», wie er sie nennt. Das Publikum teilt hörbar seine Freude über die Wiederbelebung des physischen Kulturlebens.
Anton Tschechow hat «Onkel Wanja» 1896 fertiggestellt, drei Jahre später fand die Uraufführung im Moskauer Künstlertheater statt. Das Stück galt damals als Spiegel des Zeitgeistes: Die Frage nach dem Sinn im Leben und die Angst vor der Zerstörung der Natur beschäftigten die Menschen.
Die Themen haben nicht an Brisanz verloren. Die Klimakatastrophe ist Tatsache; die ausgedörrten Bäume auf der Bühne (Bühne und Kostüm: Barbara Lenartz) mahnen unbequem an den bevorstehenden Kollaps des Systems. Trotz der erdrückenden Faktenlage und der Aussicht auf eine unbehagliche Zukunft bleiben die meisten Menschen – wie die Figuren im Stück – in ihrem Alltagstrott verhaftet.
Die Frisuren sitzen
Weil das Leben in der Stadt teuer geworden ist, zieht der emeritierte Kunstprofessor Serebrjakow (Stéphane Maeder) mit seiner jungen Ehefrau Jelena (Irina Wrona) auf das Landgut seiner verstorbenen Ehefrau. Seine Tochter Sonja und ihr Onkel Wanja halten dieses seit Jahren in Schuss und finanzieren mit dessen Erträge das Leben des Professors. Die Arbeit lässt sie die Monotonie des Alltags vergessen.
Die Ankunft des Professors und seiner Gattin zerschlägt diese Routine. Plötzlich keimt Hoffnung, dass doch noch etwas Farbe fliesst in das öde Landleben.
Allein die Kleidung zeigt, welch unterschiedliche Welten aufeinandertreffen: hier die Leute aus der Stadt mit den glatten, akkurat geschnittenen Frisuren, gehüllt in Pelzmäntel; dort die Landleute in ihren wetterfesten Jacken und mit zerzausten Haaren, von denen – im Falle von Wanja – nur noch ein einzelner Büschel ins Gesicht hängt.
Weil der Professor krank ist, kreuzt der Arzt Astrow (Gabriel Schneider) auf dem Gut auf. Fasziniert von seinem Einsatz für den Umweltschutz, verguckt sich Sonja in ihn. Doch er zeigt sich unbeeindruckt, selbst nach ihrer hemmungslosen Tirade auf die klimaschädliche Konsumgesellschaft. Der – wegen der begrenzten Personenzahl etwas dünne – Szenenapplaus gebührt Florentine Krafft.
Auch Wanjas Begehren wird nicht erwidert, Jelena erteilt ihm eine Abfuhr. Er greift nun noch öfter zu einer der unzähligen Flaschen, die sich auf der Bühne türmen, was sich in seiner Sprache spiegelt: Der Alkohol lässt ihn rasend sprechen, er verhaspelt sich, verschluckt Silben. Eine eindrückliche Leistung von Schauspieler Klaus Brömmelmeier.
Zu sehen, wie die Figuren die Inhaltsleere ihres Lebens erkennen, ohne Fähigkeit zu einer Veränderung, schmerzt. Besonders überzeugend vermittelt das Ensemble dieses Gefühl, wenn es in ein gellendes Lachen ausbricht, das Momente später in ein verzweifeltes Schluchzen kippt.
Das Kunstblut fliesst
Wenig zur Geltung kommt Stéphane Maeder, da der Professor fast die ganzen hundert Minuten über im Schlafanzug in einem Sessel fläzt und ab und zu in einem Buch blättert. Auf Wanjas Klage vom verpfuschten Leben – «Ich habe nicht gelebt!» – entgegnet der Professor: «Man muss ein Werk schaffen.»
Eine zynische Antwort, entpuppt sich doch sein vermeintlich brillantes wissenschaftliches Werk als höchstens durchschnittlich. Dass er mehr als sein halbes Leben lang mit harter Arbeit einem Hochstapler ein mondänes Dasein ermöglicht hat, lässt Wanja noch tiefer sinken. Als der Professor den geplanten Verkauf des Gutes ankündigt, womit er Wanja und Sonja ihrer Lebensgrundlage berauben würde, sieht Wanja nur noch eine Option: Er schiesst.
Das Kunstblut sprüht Klaus Brömmelmeier gleich selber aus einer Plastikflasche auf sein Opfer. Mit diesem Kniff verwischt Regisseur Kieran Joel (der nach «Kinder der Sonne» seine zweite Berner Inszenierung zeigt) die Grenzen von Spiel und Realität und wirft die Frage auf, ob nicht das Leben an sich ein Spiel ist. Erneut durchbrochen wird das Spiel am Schluss, als ein Techniker mit einer Tauchpumpe das Wasser von der verregneten Bühne saugt.
Ein stimmiges Ende für einen Abend, der gleich aufhört, wie er begonnen hat. Aus dem Off erklingt Wanjas Monolog über die Absurdität des Lebens. Das Stück nimmt kein Ende. Die Geschichte wiederholt sich. Was bleibt, ist die Leere. Und die Erkenntnis, dass der Genuss von leidenschaftlichem Schauspiel mit Livepublikum das Leben mit Sinn füllen kann. Zumindest so lange, bis das Licht im Saal angeht.
Weiterer Aufführungstermin: 9. Mai, Vidmar 1, Liebefeld.
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