«Wir sind einfach vor allem Menschen»
Sie führen zwar immer noch den Alltag eines Drogenabhängigen. Aber dank dem kontrollierten Konsum können sie ein geregeltes Leben ohne Beschaffungskriminalität und nicht am untersten Rand der Gesellschaft führen.

Die Stimmung ist zwar etwas angespannt, doch die meisten Männer und Frauen stehen oder sitzen geduldig im dreissig Quadratmeter grossen Warteraum zwischen Türe und Glastrennwand. Ohne sich zu schubsen oder vorzudrängeln. Stets zur selben Zeit, die meisten jeden Tag, oft morgens und abends.
Wenige sprechen miteinander, einige tauschen ihre Blicke aus. Sie warten auf den Moment, in welchem sich die Türe für sie öffnet und sie an der Reihe sind. Entweder spritzen sie sich kontrolliert den Heroinersatz Diaphin an einem der Tische im Innenraum. Oder sie schlucken einen der pharmazeutisch hergestellten Ersatzstoffe und verabschieden sich danach ebenso flink wie alle.
Ihre Geschichten sind zwar alle anders und doch ähnlich: diejenigen von Drogenabhängigen, die einst in einem Teufelskreis von Rausch, Beschaffungskriminalität, Entzug, Absturz und oft auch Gefängnis in ein Leben am Rande der Gesellschaft führten.
Viele kennen sich, doch die meisten teilen höchstens den Augenblick des gemeinsamen Wartens in der Asbo, der Ambulanten Suchtbehandlung Berner Oberland an der Allmendstrasse 10 in Thun.
Manuela hat erstmals Heroin gespritzt, als sie 14 war
Unter ihnen ist auch Manuela*. Ihr Leben richtet sich seit ihrem 14. Lebensjahr nach der Heroinspritze, seit 16 Jahren nach derjenigen in der heroingestützten Behandlung in Thun. Jeden Tag um 7.10 Uhr und um 17 Uhr, praktisch auf die Minute genau, dazwischen büschelt die 52-Jährige die Arbeit und ihren Alltag in einem «normalen» geregelten Leben mit Freundinnen und Freunden ausserhalb der Szene.

«Ich bin in Heimberg aufgewachsen, habe Jahrgang 1965 und wohne heute in Thun», sagt sie an einem der Tische im Nebenraum und erzählt, wie alles begann. «Meine Eltern liessen sich scheiden, meine Mutter war wie ich selbst und viele in der Familie schwer depressiv – und ich landete als 14-Jährige in einer WG.» Da hätten einige Heroin gespritzt, binnen kurzem auch sie selbst. «Niemand wusste damals genau, wie sich Heroin auswirkt. Wir lasen den Klassiker ‹Christiane F.› und fanden es cool – doch nicht lange.»
«Niemand wusste, wie sich Heroin auswirkt. Wir lasen ‹Christiane F.› und fanden es cool.»
Das war 1979. Es folgte die klassische, harte «Karriere» einer Heroinabhängigen: Lehrabbruch, eine Zeitrechnung, die von Spritze zu Spritze dauert, Beschaffungskriminalität, Kaltentzüge, Psychiatrie, Konflikte mit dem Gesetz. «Das Schlimmste waren die zwei Jahre in U-Haft, danach folgten insgesamt drei Jahre im Frauengefängnis Hindelbank. Wer nicht schon medikamentensüchtig ist, wird es bestimmt in der Haft», sagt Manuela.
Sie ist Diaphinbezügerin ohne irgendwelche Nebenkonsumationen, arbeitet zu 50 Prozent und bezieht eine 50-Prozent-IV-Rente. Sie wiegt keine 50 Kilogramm, und ein Leben ohne Heroin – beziehungsweise das pharmazeutisch hergestellte Diaphin – ist für sie kein Thema. «Einen Entzug würde ich wegen meines gesundheitlichen Zustands nicht überleben», weiss sie. «Diaphin beziehe ich wie jemand, der an Diabetes erkrankt ist und auch täglich Medikamente einnehmen muss.»
Franz war neugierig und landete schliesslich auf der Gasse
Auch Franz* spritzt sich in der Asbo Diaphin, zweimal am Tag, jeweils zur gleichen Zeit – und dies seit zwölf Jahren. «Mit der Asbo konnte ich mein Leben auf der Gasse beenden», sagt der 40-jährige Thuner, nun anstelle von Manuela in diesem separaten Raum am Tisch. Heute arbeite er 100 Prozent und könne ein ganz «normales» Leben mit allen Verpflichtungen wie Nicht-Drogenabhängige führen.
«Mich trieb die Neugierde in der achten Klasse zu den weichen Drogen», erzählt er. «Danach konsumierte ich an Wochenenden und bald täglich Kokain und auch Heroin.» Nach dem ersten Lehrjahr kamen der Absturz, der Beschaffungsstress, die Termine vor dem Jugendrichter. Hehlerei, Diebstähle, Drogenverkauf. Immerhin konnte Franz im Heim die Leere beenden. «Als ich aber abgeschlossen hatte und draussen auf eigenen Beinen stehen sollte, war ich bald wieder voll in den Drogen.»

Dann kamen die üblichen Folgen: Entzugsklinik Münsingen oder Meiringen, Methadonprogramm in der Apotheke, Gassenleben. «Endlich rutschte ich 2004 in der Warteliste nach und erhielt einen Platz in der damaligen Heroinabgabe.»
Heute lenkt das Diaphin seinen Tagesrhythmus. Eigentlich würde Franz gerne clean sein oder eine längere Beziehung haben. Doch das sei schwierig. «Alles, was mein Gleichgewicht verunsichern kann, macht mir Angst», gesteht er und spricht über seinen Schutzpanzer. «Ich bin etwas einsam, doch ich bin stabil – das ist meine Rettung.»
Sandra hat gekifft, dann gespritzt und alles verloren
Wer Sandra*, 27-jährig, kurze Haare, kecker Blick und sportliche Figur, auf der Strasse kreuzt, wird diese Frau kaum mit Drogen in Verbindung bringen – höchstens nach einem Blick in die Augenpupillen. «Ich war depressiv, solange ich denken kann», erzählt die gebürtige Uetendorferin.
«Wohl die Unkenntnis dessen und das Unwissen darüber, wie ich mir helfen könnte, haben mich in den Konsum getrieben.» In frühen Jugendjahren begann sie zu rauchen, zu kiffen und Alkohol zu trinken, einige Jahre später konsumierte sie exzessiv Partydrogen.
«Nie hätte ich gedacht, dass man so schnell süchtig wird. Mit 18 rauchte ich das erste Mal Heroin und zog wegen eines Mannes verliebt in die Grossstadt.» Doch der habe sie nur ausgenutzt und zur Beschaffung seiner Drogen benutzt. «Ich verlor alles und sank tief. Es folgten Entzüge und weitere schwierige Jahre zwischen der Welt als Süchtiger und jener als funktionierendem Teil der Gesellschaft», sagt Sandra und richtet sich im Stuhl kerzengerade auf. «Trotzdem hatte ich immer einen Job, in dem ich erfolgreich war.»
«Jeder von uns hat seine eigene haarsträubende Geschichte.»
Nie habe sie wegen der Sucht bei der Arbeit gefehlt, nie habe sie gestohlen oder gelogen, um ihre Sucht zu finanzieren. «Doch ich habe erfahren, dass jeder Rausch nur ausgeliehen ist und die Probleme einen dreimal grösser wieder einholen.»
Langsam habe sie angefangen, ihre Psyche zu verstehen und an sich mithilfe von Therapien und Psychiatern zu arbeiten – und das habe sich gelohnt. «Heute bin ich das erste Mal frei von Depressionen und kann mir ein Leben ohne Drogen vorstellen.»
Trotzdem liege noch ein hartes Stück Arbeit vor ihr. «In der Asbo nehme ich seit vier Jahren Subutex ein, gelegentlichen Nebenkonsum konnte ich aber bis heute noch nicht ganz aufgeben.»
Manuela ist längst bei der Arbeit, ebenso Franz. Nun verabschiedet sich auch Sandra. «Ich glaube an mich, ich schaffe es», sagt sie, schwingt sich in ihren Mantel und sagt noch vor dem Weggehen: «Übrigens: Wir sind wie alle anderen auch einfach vor allem Menschen – und jeder von uns hat seine eigene haarsträubende Geschichte.»
* alle Namen geändert
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