Öko, aber optimistisch
Schriftsteller Peter Stamm glaubt an die glimpfliche Klimawende. Ein Waldspaziergang.

Dafür, dass Peter Stamm als der grosse Zauderer und Zweifler der Schweizer Literatur gilt, ist der Mann verdammt zackig unterwegs. Eilig übers Brücklein drüber, husch hinweg über den Blätterteppich und hinein in den Wald.
Stamm läuft durch den Winterthurer Eschenbergwald, den er von zu Hause in fünf Minuten auf dem Elektrovelo erreicht. Er nimmt immer denselben Weg. «Habe ich Schwierigkeiten mit einer Figur oder einer Szene, komme ich hierher und laufe los», sagt der 56-Jährige im milden, auch bei raschem Tempo stets total tiefenentspannten Thurgauer Dialekt.
Es begann mit einer Umfahrungsstrasse
Peter Stamm wurde vor zwanzig Jahren mit dem Roman «Agnes» bekannt. Als einer von ganz wenigen Schweizer Schriftstellern wird er auch in den USA gelesen und gerühmt. Mit seinem jüngsten Roman, «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», gewann er letztes Jahr den Schweizer Buchpreis. Es ist ein typisches Stamm-Buch: sprachlich nüchtern bis zur Kargheit, zugleich im Aufbau raffiniert und psychologisch vertrackt. Zeitebenen kollabieren, Doppelgänger treten auf, Frauen und Männer ver- und entlieben sich auf subtile Weise, dass mans beim Lesen kaum bemerkt. In einer Szene geht eine Figur wandern, stürmt dabei wie von Sinnen den Berg hoch. Ihr Inneres beschäftigt sie stärker als das Rundherum.
«Ich habe die Natur in den letzten Jahren mehr schätzen gelernt», sagt Stamm. Aber besser kennen gelernt habe er sie deswegen nicht. Die Vögel im Wald kann Stamm noch immer nicht auseinanderhalten. «Ich brauche die Natur für meine Arbeit. Um Ruhe zu haben und auf neue Gedanken zu kommen.»
Bevor er berühmt wurde, trat Peter Stamm den Grünen bei. Mitte der Achtzigerjahre war das, der Student wollte mit Gesinnungsgenossen eine Umfahrungsstrasse in Weinfelden verhindern. «Danach schlossen sich viele von dieser Freien Liste der gerade entstandenen Grünen Partei an. Ein Beitritt war für mich der naheliegende Schritt.» Stamm blieb der Partei treu, organisierte hier und dort einen Anlass, stellte sich als Listenfüller zur Verfügung.
So auch bei den jüngsten Wahlen: Auf dem letzten Listenplatz der Grünen des Kantons Zürich holte er 44'000 Stimmen. Stamm machte damit ein besseres Resultat als diverse Kandidaten, die von der Partei vorteilhafter platziert worden waren. Wie nach jeder Wahl wartet er gespannt auf die Auswertung. Die Statistik habe gezeigt, dass er mit seiner Kandidatur jeweils allen anderen Parteien einige Stimmen abluchse – der CVP, der FDP, sogar der SVP. Stamm glaubt, dass die Klimakrise mit Technologie und Pragmatismus zu bewältigen ist, dass keine allzu harten Einschnitte nötig werden und wir unseren Wohlstand bewahren können. Der Schriftsteller hat eine überraschende Sicht auf die Klimakrise: jene des leisen Optimisten.
Pragmatischer Bezug zur Natur
Eine Pilzkolonie liegt am Weg im Eschenbergwald, Stamm läuft stracks an ihr vorbei. Er habe kürzlich zum ersten Mal in seinem Leben Pilze gesammelt, erzählt Stamm. «Frühmorgens, am Vorabend hatte ich eine Lesung.» Zwei Kilo Steinpilze habe er gesammelt. Es habe unglaublich viele Steinpilze gehabt dort, es sei geradezu unmöglich gewesen, die Pilze zu übersehen. Stamm lacht. Der Städter, der auch schon in New York und Paris gelebt hat, bildet sich nichts ein auf sein Verhältnis zur Natur. Er hat keinen esoterischen Bezug, sondern einen pragmatischen, geradezu banalen: «Die Natur ist die Grundlage des Lebens, deshalb müssen wir sie schützen. Darum sind die Grünen meine Partei.»

Peter Stamm ist ein engagierter Literat. Jedoch auf andere Weise als ein Milo Rau oder ein Jonas Lüscher, mit dem er diese Frage schon debattiert hat – engagiert ausschliesslich als Bürger, nicht als Künstler. Stamm glaubt nicht, dass er mit seinen Romanen politisch etwas bewegen kann. «Gibt es das denn überhaupt, gute engagierte Literatur?», fragt Stamm. Sicher, bei Tschechow werde manchmal Überdruss wegen der zaristischen Politik spürbar, und bei Ibsen würden die sozialen Verhältnisse kritisiert. «Aber das ist ja alles immer indirekt, hat nie eine durchschlagende Wirkung.»
Peter Stamm denkt nicht daran, einen «Klima-Roman» oder dergleichen zu schreiben. Die Klima-Literatur, die dieser Tage in den Büchermarkt drängt – Autoren, die über ihre eigene Untätigkeit räsonieren –, interessiert ihn nicht. Vielleicht gebe eine Klimademo mal eine literarische Szene her, mehr aber auch nicht. «Mir geht es nach wie vor um die Psychologie des Menschen, um das Grundsätzliche.»
Nicht alles über den Haufen werfen
Der Spaziergang ist eine halbe Stunde alt, und plötzlich läuft Stamm auf Asphalt. «Oh, jetzt haben wir uns verlaufen.» Peter Stamm klingt, als wäre er gerade ein wenig enttäuscht von sich. Dann fügt er an: «Wir kommen schon zurück. Der Weg ist jetzt einfach weniger schön.»
Nach dem historischen 20. Oktober glaubt Stamm, dass die Schweiz nun definitiv von der symbolischen zur praktischen, wirksamen Klimapolitik übergehen kann. Er würde das Benzin massiv verteuern, das Fliegen mit einer spürbaren Abgabe verteuern. Zudem würde er Anreize schaffen, dass mehr Solarplatten auf den Dächern montiert werden. «In Österreich machen sie das besser.» Ob sich die Klimabewegten in den Strassen damit zufriedengeben, mit einer Angleichung an Österreich? «Wir müssen jetzt nicht alles über den Haufen werfen», sagt Stamm.
Die Performance von Göteborg
An der Buchmesse in Göteborg sah er jüngst eine Performance von Klimaaktivisten. Kunstblut, das über den Boden floss, dramatische Gesten. Die Szenerie befremdete Stamm. Er findet so was unnötig, im dümmsten Fall kontraproduktiv. Seine beiden Kinder, zwei Teenager, haben ihn an die grosse Klimademo in Winterthur gelotst. Es war erst Stamms zweite Demo überhaupt. «Es war ein guter Moment, um ein Zeichen zu setzen.» Als sein Sohn den dritten Freitag in Folge streiken wollte, habe er ihm dann allerdings erklärt, dass sich der Effekt langsam abnütze und er nun besser wieder zur Schule gehe.
Doch was hilfts nun eigentlich, wenn die Schweiz die Energiewende tatsächlich hinbekommt, die grossen Staaten aber weiterpaffen, China zum Beispiel? «Ich war dort. Die haben in gewissen Städten mehr Elektromobilität als wir. Und ich habe noch nie so viele Sparlampen gesehen wie in China. Die machen vorwärts, keine Sorge.» Sowieso, Hoffnungslosigkeit sei noch nie eine Option gewesen.
Zurück am Stadtrand von Winterthur. Bevor er wieder auf sein Elektrovelo steigt, fällt Stamm noch eine heitere Kalkulation ein: «Zählte ich die Stunden, die die Leute lesend mit meinen Büchern verbracht haben – alles überaus klimafreundlich verbrachte Stunden –, käme eine beachtliche Summe zusammen.»
Als bedürfte es eines letzten Beweises für Peter Stamms Optimismus: Selbst einem apolitischen Literaten kann der Grüne noch etwas abgewinnen.
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