«Wir dürfen uns die Freiheit nicht nehmen lassen»
Oslo löst sich allmählich aus der Schockstarre. Nach den Anschlägen beginnen die Aufräumarbeiten im zerstörten Regierungsviertel – und erste Reflexionen der schrecklichen Ereignisse.

Die Spuren des Terrors sind überall in der Osloer Innenstadt zu sehen. Bis zu vierhundert Meter vom Explosionsort entfernt liegen Splitter der von der Druckwelle zerborstenen Fensterscheiben auf der Strasse. Vor dem Parlament stehen mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten, das Viertel rund um das Regierungsgebäude, wo die Bombe dafür sorgte, dass Teile von Oslo am Freitag aussahen wie ein Kriegsgebiet, ist noch immer weiträumig abgesperrt. Auch hier unterstützt das Militär die Polizei.
Der Ort, an dem der mutmassliche Täter, der norwegische Staatsbürger Anders Behring B., gestern versuchte, das Bewusstsein der Osloer zu erschüttern, die bis vor wenigen Tagen meinten, in einer friedlichen Stadt zu leben, liegt im politischen Herzen Norwegens. Er gleicht noch immer einem Schlachtfeld. Ein wenige Meter vom Regierungsgebäude patrouillierender Soldat sagt: «Ich hätte niemals gedacht, dass ich meine Heimatstadt wegen Terrorgefahr beschützen müsste.»
«Es ist gut, jetzt etwas machen zu können»
Wo sonst Politiker und Verwaltungsbeamte sowie Journalisten der hier ansässigen Zeitungsverlage zur Arbeit gehen, ist heute der Ort der Helfer. Sie versuchen, das gröbste Chaos möglichst schnell zu beseitigen. Sie fegen Scherben zusammen, sichern einsturzgefährdete Gebäudeteile. Schaulustige würden stören, daher die Absperrungen.
In der samstags üblicherweise belebten Einkaufsmeile Karl Johansgate sind die Geschäfte geschlossen. Dan Erik und sein Kollege Sergejs sind hier seit den frühen Morgenstunden unterwegs. Auf ihren Kleintransporter haben sie Spanplatten geladen, um sie vor die zu Bruch gegangenen Schaufenster zu nageln. «Wir werden den Tag zu tun haben», sagte Dan Erik. Wie es ihm geht? «Es ist gut, jetzt etwas machen zu können», sagt er. So bleibe weniger Zeit, um über die grausamen Geschehnisse des Vortages nachzudenken.
«Oslos Ground Zero»
«Es war ein richtig lauter Knall», sagt der 18-jährige Morten. Er wohne zwei Kilometer vom Regierungsviertel entfernt, sagt er. «Trotzdem sind in unserer Wohnung durch die Erschütterung Bilder von der Wand gefallen.» Jetzt, so fügt er in Anspielung auf die Anschläge auf das New Yorker World Trade Center hinzu, habe Oslo auch seinen «Ground Zero».
Das Zustände in Oslo sind dennoch nicht mit denen von New York in den Tagen nach dem 11. September 2001 zu vergleichen. Die Spuren mögen an vielen Stellen in der Innenstadt sichtbar, das Regierungsviertel abgesperrt sein - doch die Menschen lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Vor den Fernsehern im Hauptbahnhof, die rund um die Uhr Berichte über die Katastrophe zeigen, haben sich zwar einige Menschen eingefunden. Doch sie wirken ruhig und entspannt und es sind keine Massen. Auch an den Absperrungen hält sich der Andrang in Grenzen. «Sich jetzt aufzuregen, bringt doch nichts», sagt einer.
Betroffen, aber nicht niedergeschlagen
Wer mit dem Hotelportier, dem Taxifahrer oder Passanten auf der Strasse spricht, hört betroffene, aber kaum niedergeschlagene, resignierte oder gar panische Stimmen. Gäbe es nicht alle paar Meter die zerbrochen Scheiben, wären nicht die Geschäfte geschlossen und würde man nicht fast überall den Klang von Schweiss- oder Bohrmaschinen hören, mit denen Arbeiter versuchen, die schlimmsten Schäden provisorisch in den Griff zu bekommen - abseits des Regierungsviertels könnte man denken, es sei ein ganz normaler Samstag in Oslo.
Die Nachrichten zu den Hintergründen des Attentates haben sich inzwischen herum gesprochen. Der 32-jährige Anders Behring B., der am späten Freitagnachmittag wie ein Amokschütze wahllos auf die Jugendlichen auf der Insel Utøya schoss, liess, wahrscheinlich per Fernzündung, zuvor offenbar auch die Bombe am Regierungsgebäude explodieren. Er soll feindlich gegen über Muslimen eingestellt sein und rechtsextreme Ansichten haben, ist aber offenbar kein aktives Mitglied einer organisierten neonazistischen Vereinigung.
«22-07-2011»
Die Boulevard-Zeitung VG präsentiert sein Bild auf der Titelseite ihrer Samstagausgabe: ein jugendlicher, gut aussehender Mann mit blonden Haaren. Er sieht harmlos aus, doch wie sehr das Äussere täuschen kann, ist auf den nachfolgenden Seiten des Blattes dokumentiert. Unmittelbar nach der Explosion aufgenommene Fotos vom Unglücksort zeigen blutüberströmte Menschen, Rettungskräfte, denen man ansieht, dass sie diese Stunden niemals vergessen werden. Das Blatt «Aftenposten» zeigt auf seiner ersten Seite ein Foto des Regierungsgebäudes. Sämtliche Fenster sind zerstört, darunter findet sich nur das geschriebene Datum: «22-07-2011».
Wie sehr der Tag die Stadt Oslo, seine Einwohner und ganz Norwegen verändern wird, ist nicht absehbar. Dem ersten Eindruck nach scheinen die Osloer entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. «Wir müssen besonnen bleiben», sagt ein Busfahrer, der vom Knall der Explosion auf seinem Fahrersitz, einige Kilometer vom Unglücksort entfernt, aufgeschreckt wurde. Norwegen sei ein offenes Land, die Menschen hier wollten in einem freien Staat leben, an dem nicht an jeder Ecke Polizisten oder Absperrgitter zu sehen seien.
Ob durch Islamisten oder andere Attentäter - auch im beschaulichen Norwegen hätten die Menschen gewusst, dass sie ein Terroranschlag treffen könnte. «Aber es sterben noch immer viel mehr Menschen im Strassenverkehr als nach Anschlägen», sagt der Mann. Klar, man solle vorsichtig sein. «Aber wir dürfen uns keine Angst einjagen und uns unsere Freiheit nicht nehmen lassen.»
dapd/ami
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