Wie viel Gewalt muss man zeigen, um über Gewalt zu sprechen?
Für den Secondo und Berliner Autor Necati Öziri ist das Theater der Ort, wo gesellschaftliche Konflikte von allen Seiten beleuchtet werden können.

Theater muss politisch sein. Nur schon, wie Necati Öziri formuliert, «durch die Körper, die einander in einem Raum ausgeliefert sind». Bloss Geschichten abzuspulen, sei hingegen weder Kernkompetenz von Theater noch Ziel. «Sonst wäre es irrelevant», sagt er streng ins Telefon.
Man stellt sich vor, dass er dabei ein Gesicht macht wie auf den Fotos, die man von dem Mann kennt, der seit Herbst 2017 als Dramaturg beim Theatertreffen der Berliner Festspiele und als Leiter von dessen Internationalem Forum arbeitet: mit skeptischem Blick in den braunen Augen und ohne den Anflug eines Lächelns in den kantigen Zügen.
Gesellschaftspolitische Relevanz haben jedenfalls seine eigenen Stücke. Egal, ob sie direkt bei seiner Erfahrung als Secondo im Ruhrpott andocken wie das viel diskutierte «Get deutsch or die tryin'» (2017) und die Komödie «Vorhaut» (2014) oder ob sie einen Klassiker überschreiben – wie das Drama «Die Verlobung in St. Domingo: Ein Widerspruch», das jetzt in Zürich uraufgeführt wird.
«Person of Colour»
Früher aber, am Gymnasium, war die Disziplin Theater für den Mathe- und Logik-Nerd Öziri irrelevant. Die obligatorischen Berührungen mit der Kunstform liessen in ihm nur ein Gefühl zurück: Meins ist das nicht. Zu schick, zu weiss, thematisch jenseits von Gut und Böse.
Öziris Vater war als Flüchtling nach Deutschland gekommen – aus der Türkei, wo er als politischer Häftling im Gefängnis gesessen hatte. Necati Öziri wurde dann 1988 bei Recklinghausen geboren, bekam aber erst mit 18 den deutschen Pass. Seine Mutter musste sich als Alleinerziehende mit Hartz IV durchschlagen. Er weiss, was es heisst, auf Ämtern herumzuhocken, Formularen hinterherzujagen; hat strukturellen Rassismus erlebt.
«Da spielen Mikromechanismen der Macht», erzählt er. «Leute in Fluren warten zu lassen, sie ständig wieder vorzuladen: Das ist auch ein Ausdruck von Herrschaft über fremde Zeit.» Und er zitiert die schwarz-amerikanische Nobelpreisträgerin Toni Morrison: Die Funktionsweise von Rassismus sei Ablenkung. Er verhindere, dass man ungestört seinem Tagwerk nachgehen könne, zwinge zu permanenter Selbsterklärung und Rechtfertigung.
Theater ist kein Zoo für gefährdete Arten.
Für den deutsch-türkischen Theatermann selbst hat sich, mit dem Einser-Abitur, dem Studienstipendium und, nicht zuletzt, dem Theater, das Leben geändert: Heute, so beschreibt er es einmal, bewege er sich entlang der Machtachsen des Systems. Dieses privilegiere ihn gegenüber stärker benachteiligten Gruppen, benachteilige ihn jedoch als «Person of Colour» gegenüber Weissen.
Solche Benachteiligungen zeigen sich, wie er betont, auch am Theater: so in den Ensembles, wo Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert sind, und in den hohen Zugangsschwellen für Marginalisierte, vom Ticketpreis bis zur Atmosphäre.
Aber Theater ist kein Zoo für gefährdete Arten, findet der Polit-Dramatiker. Die anderen gehören weder ausgestellt noch eingehegt in einem «safe space». Sondern Theater solle, als pulsierender und geregelter Begegnungsort, sämtliche gesellschaftliche Perspektiven widerspiegeln und entlarven, nach welchen Mustern sie sich verschränken. Es müsse die Sicht der Verlierer der Geschichte mit aufnehmen – auf dass wir alle mehr sehen.
Mal ernsthaft, mal witzig
Auf Öziris Liste nötiger Perspektiven stehen etwa Queers, Feministinnen, People of Colour, Geflüchtete, Sinti und Roma, Menschen mit Handicap. Und für sein neues Stück legt der Dramatiker fest, dass «mindestens zur Hälfte schwarze Menschen und Menschen mit Rassismuserfahrung besetzt werden. Blackfacing ist nicht erlaubt.» Verboten ist auch das N-Wort, das Kleist dauernd verwendet: Der «fürchterliche alte Neger Congo Hoango» ist der grosse Antipode in der Novelle «Die Verlobung in St. Domingo» (1811).
Ist es nicht problematisch, wenn ein Autor bestimmt, wie das Ensemble genetisch und sonst wie beschaffen sein muss? «Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Netzwerk und fällt nicht unter Kunstfreiheit. Ich gehe gegen die Unterrepräsentation auf der Bühne an», entgegnet Öziri und räumt trotzdem ein: Ihm sei bewusst, dass so eine Haltung auch schwierige, neue Fragen aufwerfe.
Zum Beispiel die: «Darf ich als Mann überhaupt Frauenfiguren schreiben?» Sowieso entwickelt sich unser Gespräch zu einer Art gemeinsamem Gedankenfluss mit Staustufen zum Innehalten; mal ernsthaft, mal auch witzig.
Doch, doch: Lachen geht. Was nicht geht für den Verfechter einer offenen Bühnenwelt sind Interviews, wo er die Ansagen runterdekliniert. Also, die Sache mit den Frauenfiguren ist vertrackt. «Während die Frauen bei Kleist Opfer sind und über die Männer definiert werden, nehmen sie bei mir zwei unterschiedliche, feministische Positionen ein zur Frage ‹Wann ist Gewalt gerechtfertigt?›. Aber», schiebt Öziri hinterher, «wie viel Reproduktion von Gewalt auf der Bühne ist nötig, um über Gewalt zu sprechen? Allein die Vergewaltigungspassage habe ich zig Mal überarbeiten müssen, bis sie für mich nicht mehr klischiert wirkte.» Einfache Formeln gibt es da nicht.
Aneignung stecke immer mit drin, auch gegenüber Kleists Text. «Doch ich stelle meine Position offen aus. Und lasse etwa die junge Frau verschiedene Schlüsse ausprobieren», sagt der Autor. Die Anfänge durften dabei nicht vergessen gehen: Öziri hält sich an Chimamanda Ngozi Adichies Warnung vor der eindimensionalen Lesart der Geschichte, die zu Stereotypen führe. Er stellte sich konkret die Aufgabe, einen Klassiker aus dem kolonialen Erbe zu korrigieren. Geschichte neu zu schreiben.
Ein glücklicher Zufall
Sprachlich und inhaltlich transportiert Kleist dieses Erbe, breitet den Mythos des Massakers an den Weissen aus, blendet auch die egalitäre postrevolutionäre Verfassung Haitis aus, die Weisse als gleichberechtigte Schwarze definierte. Er registrierte zudem nicht, dass eine Frau den Aufstand initiiert hatte. «Im Idealfall verwischen in meinem Stück die klaren Fronten», erhofft sich Öziri von seiner Kleist-Überschreibung – in der selbst der Schweizer eine nicht ganz so weisse Weste hat wie bei Kleist. Man könne Schwarz und Weiss auch über Kreuz besetzen. Das Tolle am Theater sei ja der Aushandlungsprozess, der mehr leiste als reines Storytelling, dialektisch sei, schillernd – wie die Wirklichkeit.
Diese bescherte ihm einen wahrhaft glücklichen Zufall. Als Öziri 2010 in Berlin studierte, stolperte er eines Tages fast aus Versehen in den Zuschauerraum einer Bühne. Und entbrannte für das, was er da sah: Dramatik, die deutsche Realität fasst, von NSU bis Secondo-Existenz. Das Ballhaus Naunynstrasse mit seinem Fokus auf Postmigrantisches und Feministisches konnte das.
Drei Jahre später war aus dem Philosophie- und Germanistikstudenten Necati Öziri ein Mitarbeiter an Shermin Langhoffs Maxim-Gorki-Theater geworden. Ab 2014 leitete er dort das Studio. Dann zog er weiter, ans Theatertreffen. Schreiben geht überall, gemeinschaftlich denken auch.
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Uraufführung «Die Verlobung in St. Domingo: Ein Widerspruch», Schiffbau-Box Zürich, 4. April.
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