Wie der ÖV den Stromverbrauch antreibt
Befürworter. Sie wollen nicht richtig wahrhaben, dass sich nach Fukushima plötzlich neue Fragen stellen – zum Beispiel die: Kann man Strom sparen wollen, gleichzeitig aber auch mehr und vor allem schnellere Züge fordern?
Wer sich mit der Frage beschäftigen will, wie ökologisch es in der atomkritischen Epoche nach dem Unglück von Fukushima noch ist, in rasenden strombetriebenen Zügen durch die Schweiz zu pendeln, begibt sich auf eine spannende Reise durch die Widersprüche und Abhängigkeiten des Stromzeitalters. Am Anfang steht eine Erfolgsrechnung. Die SBB, die den Strom auch für Partnerbahnen wie die BLS oder die Südostbahn bereitstellen, verbrauchen zwar immer mehr Strom. Aber das immer effizienter. Im vergangenen Jahr benötigten die SBB gut 2100 Gigawattstunden Strom. Das ist eine für Laien unvorstellbare Menge, aber ungefähr 3,5 Prozent des jährlichen schweizerischen Stromverbrauchs. Oder gut zwei Drittel der Jahresproduktion des Atomkraftwerks Mühleberg, das 2010 ungefähr 3000 Gigawattstunden ins Netz lieferte. Effizienter als die Schweiz In den letzten zehn Jahren nahm der SBB-Stromverbrauch um 17 Prozent zu. In der gleichen Zeitspanne steigerten aber die SBB auch ihre Leistung massiv. Allein die zurückgelegten Personenkilometer nahmen seit 2001 um über 50 Prozent zu. Unter dem Strich bedeutet das: Die Energieeffizienz des Zugverkehrs hat sich enorm verbessert. Pro Kilometer, den ein SBB-Kunde zurücklegt, wird immer weniger Strom verbraucht. Damit erreichen die SBB ein Ziel, das die Schweiz als Ganze regelmässig verfehlt. Trotz einem moderaten Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr von 2,6 Prozent nahm der Gesamtstromverbrauch in der Schweiz um 4 Prozent zu. Bei den SBB hingegen wuchs 2010 der Umfang der zurückgelegten Personenkilometer um 5 Prozent, der Stromverbrauch nahm nur um knapp 2 Prozent zu. Und die SBB wollen laut Mediensprecher Reto Kormann ihre Energieeffizienz pro Person und zurückgelegten Kilometer auch in den nächsten Jahren weiter verbessern. Was aber keineswegs bedeutet, dass das Wachstum der SBB-Stromnachfrage zum Stillstand kommt. Denn die in Energiefragen häufige Realität, dass Effizienzgewinne vom Mengenwachstum gleich wieder weggefressen werden, trifft auch beim Eisenbahnverkehr zu. Und wie. Derzeit deutet nichts darauf hin, dass das Verkehrswachstum zum Erliegen kommt. Im Extremfall könnten sich die Passagierzahlen in den nächsten 20 Jahren verdoppeln. Angesichts der prognostizierten unverändert hohen Zuwachsraten beim Personen- und Güterverkehrs rechnen die SBB mit weiterhin steigendem Energieverbrauch. Wie hoch genau er sein könnte, wird derzeit in einer auch politisch heiklen Versorgungs- und Beschaffungsstrategie erarbeitet. Horrendes Wachstum Als Laie kann man sich mit dem Taschenrechner jedoch eine konkrete Vorstellung machen, um welche Grössenordnungen es hier geht. Die jüngste Verbrauchszunahme von 2 Prozent mehr Strom wirkt auf den ersten Blick ja harmlos. In absoluten Zahlen benötigten die SBB 2010 bloss rund 40 Gigawattstunden mehr Strom als 2009. Das allerdings entspricht etwa dem Jahresstromverbrauch von 13000 durchschnittlichen Haushalten, was schon ein wenig ernsthafter tönt. Und man könnte sogar so formulieren: Allein um den durch das Verkehrswachstum verursachten momentanen Mehrbedarf an Strom zu decken, müssten die SBB jedes Jahr eine neue Anlage in der Grösse des Windkraftwerks auf dem Mont Crosin im Jura in Betrieb nehmen, wo 16 mächtige Propeller für die Herstellung von rund 40 Gigawattstunden Strom sorgen. Der anhaltende Stromhunger des öffentlichen Verkehrs ist von energiepolitischer Bedeutung – zumal ein Bahnbetrieb ganz spezifische Bedürfnisse hat. Züge brauchen hauptsächlich dann Strom, wenn sie beschleunigen. Der Taktfahrplan bringt es mit sich, dass zur vollen und halben Stunde vor allem in den Stosszeiten am Morgen und Abend Dutzende Züge gleichzeitig Gas geben. Laut SBB-Sprecher Kormann kann der Strombedarf deshalb innerhalb von 15 Minuten um über 300 Megawatt schwanken. Das ist, wie wenn der riesige Windpark mit 125 Turbinen, der derzeit in Südafrika gebaut wird, kurz zu- und dann wieder weggeschaltet würde. Ein Viertel Atomstrom Die SBB müssen kurzfristig gewaltige Energiemengen abrufen können. Das ist der Grund, warum sie sich unter anderem zu gut einem Drittel am Ausbau des für schweizerische Verhältnisse sehr grossen Pumpspeicherkraftwerks Nant de Drance im Unterwallis beteiligen. Mit Strom aus Atomkraft oder aus erneuerbaren Energien soll dort Wasser in ein höher gelegenes Staubecken gepumpt werden. Wenn der Fahrplan mehr Strom verlangt, lenkt man das zuvor hochgepumpte Wasser runter durch die stromproduzierenden Turbinen. Wer heute in der Schweiz in einen Zug sitzt, fährt ein Viertel der Strecke mit Atomstrom, die SBB besitzen Beteiligungen an den AKW Leibstadt, Cattenom und Buguey (beide Frankreich). Die SBB streben laut Kormann eine «grösstmögliche Unabhängigkeit von Atomstrom an», nüchtern betrachtet macht die unerbittliche Wachstumsspirale, in der sich die SBB befinden, ein rasches Ausstiegsszenario schwierig. Zwar ziehen die SBB mit einem ambitiösen Sparprogramm viele Register, um den Stromverbrauch nicht ausufern zu lassen – allen voran die Lokführer. In Simulatoren lernen sie, einen Zug stromsparend zu steuern – beispielsweise, indem sie straff anfahren oder die elektrische statt die mechanische Bremse betätigen. So liefert der bremsende Zug Strom zurück ins Netz. Auf der heutigen Gotthardstrecke beträgt der Energierückgewinn 50 Prozent – zwei talwärts fahrende Züge ziehen quasi einen bergauf. Mit neuer Software werden die Lokführer auch direkt ins Cockpit mit Fahrempfehlungen beliefert – zum Beispiel, dass sie einen beschleunigten Zug frühzeitig ohne Antrieb ausrollen lassen können, wenn sie aufgrund der aktuellen Verkehrssituation eine Fahrzeitreserve haben. Anspruchsvolle Kundschaft Doch die Kundenbedürfnisse als Wachstumstreiber bleiben stärker. Schnellere Verbindungen bedeuten höhere Tempi, und mit zunehmender Geschwindigkeit steigt, besonders in Tunneln, der Luftwiderstand überproportional stark. Das ist der Grund, warum die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels trotz geringerer Distanz und Steigung keine Stromeinsparungen bringt. Weil sich die Bahnkunden in wenigen Spitzenzeiten massieren, setzen die SBB auf Doppelstockzüge, die aber eine schlechtere Aerodynamik und deshalb einen höheren Stromverbrauch aufweisen – und zwar auch während der vielen Fahrten, auf denen die Auslastung klein ist. 20 Prozent des Stroms setzen die SBB nicht fürs Fahren ein, sondern für die wachsenden Bequemlichkeitsansprüche der Fahrgäste. Einen unklimatisierten Zug empfindet man heute fast als Zumutung – obschon Kühlung und Heizung Stromfresser sind. Laut SBB verbraucht ein mit 700 bis 1000 Passagieren beladener Intercity auf der Fahrt von Bern nach Zürich 2750 Kilowattstunden Strom. Mit dieser Energie könnte man in zehn Wohnungen ein Jahr lang die Unterhaltungselektronik betreiben. In Ausbauszenarien wird diskutiert wird, Bern–Zürich während der Stosszeiten auf einen Viertelstundentakt zu verdichten. Überschlagsmässig berechnet käme das einer zusätzlich benötigten Strommenge gleich, die dem Durchschnitts-Jahresverbrauch von über 6000 Haushalten entspricht. Das Beispiel zeigt: Der zusätzliche Strombedarf bei einem Bahnausbau müsste umweltbewussten ÖV-Befürwortern mehr zu denken geben als es das heute tut. Die Eisenbahn bleibt bezüglich Energieeffizienz und CO2-Bilanz dem Privatauto haushoch überlegen. Aber so richtig gut kann man sich als stromsparwillige Person eigentlich nur fühlen, wenn man im Hochsommer in einem unklimatisierten Bummelzug sitzt.Jürg Steinerjuerg.steiner@bernerzeitung.ch >
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