Weshalb sich die Türkei im Syrien-Konflikt zurückhält
Die Türkei könnte in Syrien gut militärisch eingreifen. Doch das politische Risiko ist für Präsident Erdogan zu gross.
Rein militärisch gesehen wäre die Türkei unter allen Nachbarn Syriens das Land, das die besten Aussichten hätte, in Syrien einzugreifen und die Soldaten und Milizen des Assad-Regimes davon abzuhalten, ihre eigenen Mitbürger abzuschlachten. Die Türkei hat eine der syrischen weit überlegene Armee; sie hat eine lange gemeinsame Grenze mit Syrien; sie ist bereits Zufluchtsort von vielen Flüchtlingen aus Syrien, Zivilen wie Militärs, die nahe an der Grenze in Lagern untergebracht worden sind.
Für die Türkei wäre es, von der militärischen Ausgangslage her, am einfachsten von allen Ländern der Region, in Nordsyrien eine militärisch abgesicherte Schutzzone zu schaffen, wo die Assad-feindlichen syrischen Kräfte sich sammeln und konzentrieren könnten, um von dort aus entweder mit dem Regime von Damaskus zu verhandeln oder, wenn dies nicht gelänge, Schritte zu unternehmen, um sich weiter über Syrien hinweg auszudehnen.
Politische Hindernisse
Doch ein derartiges, rein militärisch glaubwürdiges Szenario verliert seine Glaubwürdigkeit, wenn man neben den militärischen Kriterien auch die politischen mit in Rechnung stellt.
Was die syrische Politik angeht, ist ungewiss, ob ein Vorstoss von türkischer Seite nach Syrien nicht dermassen starke nationalistische Reaktionen in Syrien auslösen würde, dass sie das Regime von Damaskus stärken und seine Gegner in den Augen vieler patriotischer Syrer zu dem abstempeln würden, was sie in der Sprache der Regierungspropaganda schon heute sein sollen: Verräter an Syrien im Dienste des Auslands.
Historische Altlasten
Von Istanbul aus wurden vor dem Ersten Weltkrieg die syrischen Provinzen des Osmanischen Reiches regiert. Syrien als Nationalstaat hatte sich zuerst von der Türkenherrschaft befreit, bevor es, sehr kurz darauf, unter französische Kolonialherrschaft kam, um sich dann 28 Jahre später auch von dieser befreien zu müssen.
Dabei blieb die Region von Antakya (türkisch Hatay), die bis 1938 zu Syrien gehörte, in türkischer Hand. Ein Verlust, der die Syrer bis heute noch schmerzt. Viele arabische Nationalisten sind der Ansicht, die osmanische Türkenherrschaft, die vier Jahrhunderte dauerte, sei ein wichtiger Grund für den zivilisatorischen Rückstand der arabischen Länder gewesen.
Die inneren Spannungen in der Türkei
Doch auf der türkischen Seite wiegen die politischen Hindernisse gegen einen türkischen Eingriff in Syrien noch schwerer. Es ist klar, das bei einem derartigen Eingriff die türkische Armee eine Hauptrolle spielen müsste. Wenn es zu Kämpfen mit der syrischen Armee des Assad-Regimes käme, müsste sie diese austragen. Es ist jedoch anzunehmen, dass Ministerpräsident Erdogan sich hüten wird, seiner Armee in der heutigen Spannungslage zwischen den türkischen Offizieren und der türkischen Regierung eine allzu herausragende Rolle zu erteilen.
Eine Armee, die Krieg führt, hat ein sehr viel grösseres politisches Gewicht in ihrem eigenen Staat, in dessen Namen sie blutet, als eine Armee in Friedenszeiten. Erdogan ist es in den letzten Jahren gelungen, der türkischen Armee politisches Gewicht zu entziehen, nachdem sie ihn im Jahre 2008 beinahe mithilfe des Obersten Gerichtshofes abgesetzt hatte. Erdogan hat sich darauf als erster Regierungschef seit Atatürk (der 1938 verschied und selbst ein General war, bevor er Staatschef wurde) gegenüber den türkischen Offizieren so weit durchgesetzt, dass er in die Lage kam, ihnen zu befehlen, statt – wie das bisher weitgehend gewesen war – sie dem Ministerpräsidenten.
Laufende Grossprozesse gegen Armeeoffiziere
Doch die Wogen, die das Machtringen zwischen Erdogan und den Armeeoffizieren aufgewühlt hat, sind noch nicht völlig geglättet. Das beste Zeichen dafür, dass grosse Spannungen immer noch andauern, sind die Monsterprozesse gegen Armeeoffiziere, die in der Türkei seit 2009 laufen. Die wichtigsten beiden tragen die Namen «Ergenekon» und «Vorschlaghammer». In ihnen sind zahlreiche Armeeoffiziere, aktive und pensionierte bis hinauf zum Generalsrang, angeklagt und in grossen Zahlen in Untersuchungshaft festgenommen, aber (noch?) nicht verurteilt. Die Anklagen, Tausende von Seiten, drehen sich immer darum, dass die Staatsanwälte diesen Offizieren vorwerfen, sie hätten sich verschworen, die legale Regierung des Landes zu Fall zu bringen und sie hätten dazu allerhand dunkle Methoden teils geplant, teils verwendet, die von Morden zur Unruhestiftung im Land durch Provokationen bis zur Bewaffnung von putschistischen Stosstrupps gegangen seien.
Viele türkische Offiziere, auch jene die nicht direkt angeklagt werden, sehen diese Prozesse als den Versuch einer Rache an, welche der Ministerpräsident und seine Partei dafür nähmen, dass die Armee versucht hatte, sie von der Macht zu entfernen. Dies sorgt für delikate Beziehungen zwischen den beiden Hauptpfeilern des türkischen Staates, dem Ministerpräsident mit seiner Mehrheitspartei und den Armeeoffizieren.
Zu gefährlich für Erdogan
Für Erdorgan wäre es ein – wahrscheinlich untragbares – Risiko, wenn er seiner Armee den Befehl erteilen wollte, in Syrien einzugreifen und dort einen Krieg auszulösen. Sie täte es möglicherweise, doch sie würde dann auch ihr dadurch bedeutend gewachsenes Gewicht innenpolitisch zur Geltung bringen. Es könnte aber auch sein, dass sie sich gegen den Befehl auflehnen würde und ihn zum Grund oder Vorwand nähme, um die Regierung Erdogans doch noch zu Fall zu bringen.
Ideologische Gegensätze
Die Armee verteidigt in der Türkei den Säkularismus (dort Laizismus genannt) im Namen des Nationalhelden Atatürk; Erdogan und seine AK-Partei regieren im Namen einer «islamischen Demokratie». Die Aufständischen in Syrien dürften mindestens teilweise «Islamisten» sein, während Assad und die syrische Baath-Partei ideologisch dem Säkularismus nahestehen. Die türkische Armee aber müsste im Falle eines türkischen Eingriffs an Seiten der dem Islam zugewandten Kräfte kämpfen, die sie als ihre ideologischen Feinde sieht und gegen die mehr säkulare Regierung, die ihnen ideologisch viel näherstünde.
Eine nicht militärische Rolle für die Türkei
Erdogan ist ein realistischer und erfahrener Politiker. Es ist nicht anzunehmen, dass er in der geschilderten Lage das Risiko eingehen könnte, die Konfrontation mit den türkischen Offizieren, die er zurzeit beinahe endgültig gewonnen hat, dadurch zu erneuern, dass er diesen den Einmarschbefehl nach Syrien erteilte.
Aus diesen Gründen hat man zu erwarten, dass die Türkei mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien fortfahren wird. Sie wird auch, wie schon gegenwärtig, eine diskrete Hilfe bei der Beherbergung, Ausbildung und Organisation der Überläufer aus der syrischen Armee gewähren, welche die Türkei erreichen, möglicherweise auch unter der Hand bei ihrer Bewaffnung nachhelfen, etwa wenn Waffen von aussen kämen, aus Saudiarabien oder aus Katar. Doch wird sie nicht weiter gehen als das. Das direkte Eingreifen ihrer Armee in Syrien wird sie vermeiden.
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