Neues Buch von Peter StammDas Hexenhaus ist ein Schulhaus
«Wenn es dunkel wird»: Peter Stamm, einer der wenigen Schweizer Autoren, die auch im englischen Sprachraum gelesen werden, legt einen neuen Band mit Erzählungen vor. Diese schauen tief in die Verstörungen der Alltagsmenschen hinein.

Seit Iwan Turgenjews «Tagebuch eines überflüssigen Menschen» ist dieser ein Typus der Literaturgeschichte. Soziologisch meint er Angehörige einer gesellschaftlich unproduktiven, also funktionslosen Schicht (etwa den schmarotzenden russischen Landedelmann), psychologisch, dass sie sich selbst auch als überflüssig wahrnehmen. Peter Stamm verortet in der Erzählung «Supermond» diesen Typus in der mitteleuropäischen Gegenwart.
Georg ist ein Angestellter kurz vor der Pensionierung. Seine Aufgabe ist es, anhand einer Liste bestimmte Bauteile von Verkehrsflugzeugen zu kontrollieren. Im Verlauf seiner letzten Arbeitstage macht er merkwürdige Beobachtungen: Kollegen lassen ihn vor dem Aufzug stehen, seine Mails kommen ungelesen zurück. Mehr noch: Im Tram setzt sich eine Frau fast auf seinen Sitz, die Kassiererin im Supermarkt lässt ihn, ohne dass er bezahlt hat, einfach durch. Zu Hause kocht und isst seine Frau Hedwig allein, so, als sei er gar nicht da.
Für uns Leser ist Georg dagegen sehr präsent, nämlich als Ich-Erzähler, wir erleben mit ihm, wie er quasi aus der Welt verschwindet. Am Schluss geht Hedwig «einfach durch ihn durch», sein Körper wird schwerelos, und er erhebt sich vom Fenster zu einem Flug in die Freiheit: «Ich steige. Der See, die Hügel, in der Ferne die schneebedeckten Berge. Bald werde ich das Mittelmeer sehen, dann Afrika, den Atlantik, Amerika. Ich steige.»
Der Bankräuber mit der Eichhörnchenmaske
Ein wunderbares Erzählstück, in dem das Überflüssigmachen von Arbeitnehmern – Georg begreift, dass seine Tätigkeit künftig mühelos von einem Kollegen mit links erledigt werden kann – hier eine realistisch-fantastische Gestalt gewinnt. In der Ich-Form zeigt sich das deformierte Bewusstsein eines Beschäftigten, dem die Beschäftigung selbst längst zweifelhaft geworden ist (wofür war seine Liste eigentlich gut, wer hat sie überhaupt gelesen?), der aber unbeirrt seine Interessen mit denen des Unternehmens gleichsetzt (« … zum Besten der Firma und also letztlich auch zum Besten für mich»).
Als er ohne zu bezahlen den Supermarkt verlässt, imaginiert er sich kurz und abenteuerlich als Ladendieb. «Vielleicht gefällt mir der Gedanke, eine andere Seite zu haben, die niemand kennt, Dinge zu tun, die mir keiner zutrauen würde. Aber ich habe keine andere Seite, ich bin sozusagen ein einseitiger Mensch.»
Peter Stamms neuer Erzählband «Wenn es dunkel wird» ist voll solch unschuldig-treffender Formulierungen, voll auch von Menschen, die gern eine andere Seite hätten. Die des jungen David (in der Erzählung «Nahtigal») ist die eines Bankräubers. Der Lehrling plant, die Bankfiliale neben seinem Betrieb zu überfallen – mit einer Eichhörnchenmaske getarnt –, und er beobachtet und notiert das Treiben dort über Wochen, akribisch, wie das Bankräuber eben tun («der kleinste Fehler konnte das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen»). Der geplante Ausbruch aus dem Existenztrott bedient sich also einer medial vermittelten Rolle und geliehener Gesten, er ist genauso eine Kostümierung wie die lächerliche Eichhörnchenmaske.
Die Helden Peter Stamms haben nur ein einziges Leben, das sie zu führen meinen, obwohl es ihnen längst aus der Hand genommen worden ist.
Der naive Traum vom grossen Auftritt als Ganove (so viel Geld, wie David meint, liegt heute in keiner Filiale mehr) verdeckt sein wahres Bedürfnis: wahrgenommen zu werden und durch die Wahrnehmung erst als Subjekt zu existieren. Ausbruchsfantasien finden sich immer wieder in den Romanen Peter Stamms; in manchen, etwa «Weit über das Land», bricht er selbst aus, nämlich aus den Fesseln des Realismus – etwa in eine Verzweigung der Handlung, die verschiedenste Lesarten gleichzeitig möglich macht.
Für die Helden dieser Erzählungen ist das schwieriger, sie haben nur ein einziges Leben, das sie zu führen meinen, obwohl es ihnen längst aus der Hand genommen worden ist. Für Adrian (in der Erzählung «Der erste Schnee») setzt sich der Alltags- und Berufsstress auf der Fahrt in die Skiferien fort: Autokolonnen, Schlangen, zu viele Menschen, eben Dichtestress. Ehestress kommt dazu, als er noch in der Raststätte von einem Kunden angerufen wird. Das Auto mit Frau und Kindern ist weg, Adrian stapft zu Fuss durch den nahen Wald und gerät in eine Märchenszenerie. Das Hexenhaus ist ein Schulhaus, die Hexe eine Lehrerin, die ihn einen Aufsatz schreiben lässt, in dem ihm sein ganzer Lebensfrust zu Bewusstsein kommt. Die Szene könnte ein Katalysator sein, in Wirklichkeit verdichtet sie gerade die Fremdbestimmtheit.
Das raffinierteste Stück des Bandes (und vielleicht eine versteckte Hommage an Kellers «Missbrauchte Liebesbriefe») heisst «Dietrichs Knie» und erzählt von einem gekündigten (also überflüssigen) Werber, dem auch das Selbstbewusstsein als Ehemann abhandengekommen ist. Er glaubt, auf dem Laptop seiner Frau einen Mailwechsel mit einem Nebenbuhler zu finden und schaltet sich heimlich in die Korrespondenz ein – mit Folgen, die hier nicht verraten werden sollen, vor allem, weil ihre Deutung vom Interpreten abhängt.
Gerade diese Geschichte zeigt, wie Stamm mit Konstruktion und Sprache zaubert. Welche Freiheit er den Lesern schenkt – und sie zugleich zu dieser Freiheit zwingt. Sie müssen ihre Wahl treffen, auch was den Charakter der Ehefrau des Werbers betrifft, über die ja einzig der eifersüchtige und gedemütigte Ehemann Auskunft gibt.
Stamms Sprache ist von gewohnt täuschender Schlichtheit und Oberflächlichkeit, sie ist nie schlauer als die Figuren, die sie benutzen. Aber sie ist transparent. Man schaut quasi durch sie hindurch und tief hinein: in Verstörungen und Verdrängungen, in Träume und Sehnsüchte. Das bewerkstelligt der Autor manchmal allein mit einem kleinen Schlenker vom Konjunktiv in den Indikativ, vom Seinkönnen zum Sein.
In diesen Erzählungen aufgehoben sind die Menschen nicht mehr überflüssig. Sie sind wahrgenommen worden.
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt 2020. 190 S., ca. 30 Fr.
Fehler gefunden?Jetzt melden.