Wenn Linke den Brexit wollen und Rechte Europa mögen
Tories stemmen sich gegen den Brexit, Labour-Anhängern geht es zu lahm voran. Drei Stationen in der englischen Provinz.

Grimsby: Wo der «rote Wall» bricht
Viel ist bei diesen britischen Wahlen vom «roten Wall» die Rede. Gemeint sind damit die alten Industriegebiete der Midlands und Nordenglands, die sich von Liverpool im Westen bis nach Great Grimsby im Osten ziehen – und in denen traditionell «rot», also Labour, gewählt wird.
Mit Problemen haben Labour-Strategen in diesen vielfach vom Niedergang gezeichneten Regionen schon seit langem zu kämpfen. Der Brexit aber hat ihre Probleme deutlich verstärkt. Er hat alte Loyalitäten zerstört und neue Interessenlagen geschaffen. Denn viele Wähler, die hier zu Hause sind, haben beim EU-Referendum von 2016 für einen Austritt aus der EU gestimmt.
Sie bestehen oft leidenschaftlich auf dieser Abkoppelung von Europa. Und weil diesen Wählern die Haltung «ihrer» Partei in dieser Frage «zu lasch» ist, droht dem Wall bei der kommenden Wahl ernster Schaden – sehr zur Freude von Premierminister Boris Johnson natürlich, der den Brexit nun einfach «über die Bühne bringen» will.
Im alten Fischereihafen Grimsby etwa, wo 75 Prozent der Bevölkerung für den Brexit stimmten, muss die Labour-Abgeordnete Melanie Onn fürchten, dass ihre konservative Rivalin Lia Nici ihr am 12. Dezember das Mandat abnehmen wird. Es wäre eine historische Zäsur. Labour hat Grimsby seit einem Dreivierteljahrhundert ununterbrochen gehalten. «Selbst einen bunten Hund» hätten die Leute in der Vergangenheit in Grimsby gewählt, solange er eine Labour-Rosette getragen hätte, spottet man hier.
Der Kabeljau-Krieg mit Island und die von Brüssel verordneten Fischereiquoten hätten alles zerstört, klagen die Einheimischen.
Aber wie in so vielen anderen Working-Class-Bezirken tut es ein bunter Hund nicht mehr. Im Mai hat Labour bereits Grimsbys Gemeinderat an die Tories verloren. Und jetzt ist also Melanie Onn in Bedrängnis, die jüngst noch im Unterhaus für Johnsons Brexit-Deal gestimmt hat, obwohl sie eigentlich nichts vom Brexit hält.
Wenig Sympathie mit Labour zeigen denn auch einzelne «Grimbarians», mit denen man im Zentrum Grimsbys bei einem wärmenden Kaffee ins Gespräch kommt. «Wie soll man denen denn glauben? Hören die überhaupt auf uns?» wird immer wieder gefragt. Den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn finden seine Kritiker in Grimsby einen «abgehobenen Londoner», der letztlich nicht begreift, worum es geht und was Sache ist «hier im Norden». Auch der Zuzug «all der Osteuropäer» nach Grimsby in den letzten 15 Jahren ist für viele, die den Mangel an Jobs vor Ort beklagen, «ein echtes Problem».
Gewiss sei auch Boris Johnson «ein Hallodri», räumen zwei junge Mütter ein, die sich mit drei Kindern im Schlepptau in der örtlichen Arkade eine Verschnaufpause genehmigen. «Aber wenigstens weiss er was zu sagen», meint die eine. «Wenigstens weiss er, was er will.»
Vielfache Frustration liegt in der Luft, hier an der Humber-Mündung. Ist es ein Wunder? Das Städtchen, das sich Mitte des vorigen Jahrhunderts noch rühmen konnte, der grösste Fischereihafen der Welt zu sein, ist zu einem Schatten seiner selbst verkommen. Der Kabeljau-Krieg mit Island und die von Brüssel verordneten Fischereiquoten hätten alles zerstört, klagen die Einheimischen.
Drüben in den Docks, wo das Fischereimuseum steht, schaukelt einsam noch ein stolzes Fischerboot der Fünfzigerjahre, die Tiger Ross, auf den Wellen. Echte Nostalgie umfängt den Ort, der sich mittlerweile mit Fischverarbeitung zu behelfen sucht.
Beaconsfield: Zerstrittene Tories
Welten trennen Beaconsfield von Grimsby, den Süden vom Norden. Der alte Marktflecken in der Grafschaft Buckinghamshire, 40 Kilometer westlich von London, zählt zu den wohlhabendsten Gemeinden im ganzen Land. Hier, wo früher die Kutschen aus der Hauptstadt auf dem Weg nach Oxford haltmachten, mischen sich Besitz, ländliche Idylle und grundkonservative Haltung. Beaconsfield ist einer der solidesten Tory-Wahlkreise.
Hübsches Fachwerk, kleine Läden für Schmuck, Teppiche und Antiquitäten, ein kolossaler Mercedes-Benz-Showroom dominieren die Ortschaft. Aus der Pfarrkirche von St Marys dringt unter einer England-Fahne froher Advents-Gesang. Eigentlich sollte man glauben, dass hier die «blaue» Tory-Welt noch in Ordnung ist. Aber auch diese Idylle, in der beim EU-Referendum von 2016 ziemlich genau zur Hälfte für und zur Hälfte gegen Austritt gestimmt wurde, hat der Brexit schwer verstört.
Auch hier wird bitter gerungen um die Zukunft Grossbritanniens in Europa. Dazu braucht es nicht mal Labour oder die Brexit Party. Gleich zwei Kandidaten aus dem konservativen Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Offizielle Bewerberin der Tories ist eine Brexit-begeisterte 37-jährige Ex-Hollywood-Schauspielerin amerikanischer Herkunft namens Joy Morrissey, die allerdings vor Ort kaum jemand kennt, weil der Tory-Ortsverband sie vor vier Wochen erst aus der Hauptstadt nach Beaconsfield beordert hat.
Tories, die lieber in der EU bleiben würden, haben ihre politische Heimat verloren.
Der andere Kandidat ist Dominic Grieve, ehedem Kronanwalt und Kabinettsmitglied der Regierung David Camerons – einer der prominentesten britischen Politiker überhaupt, der den Wahlkreis Beaconsfield 22 Jahre lang im Unterhaus vertreten hat. Bei den letzten Wahlen, vor zweieinhalb Jahren, kam Grieve hier sogar auf eine Zweidrittelmehrheit: Ein Erfolg, wie ihn kaum ein Abgeordneter vorweisen kann.
Seither freilich hat der heute 63-Jährige es sich verscherzt mit den immer mächtiger gewordenen Brexiteers im eigenen Lager. Im Parlament hat er zunehmend gegen die Hardliner rebelliert und zuletzt gegen einen No-Deal-Brexit gestimmt. Zur Strafe hat Boris Johnson ihn und zwanzig andere Fraktionsmitglieder aus der Partei geworfen. Und Grieves Ortsverein hat beschlossen, seinen Beaconsfield-Star nicht wieder zu nominieren. Aber das hat sich Grieve nicht gefallen lassen. Er tritt als konservativ gestimmter «Unabhängiger» an. Im Grunde, erklärt er, sei die Situation ziemlich verrückt – dass er sich nun mühe, eine von ihm selbst angelegte Tory-Hochburg zu stürmen.
Die Reaktion vor Ort ist gespalten. Manche Tories schimpfen Grieve «einen Verräter» am Brexit. Sie hoffen, dass er ohne den Parteiapparat, ohne Segen «von oben», wenig Chancen hat. Tatsächlich ist ungewiss, ob es ihm ohne diesen Segen reichen wird. Grieve und die anderen Tory-Rebellen finden sich in einer schwierigen Lage. Mit dem radikalen Rechtsruck der Partei, mit der Verwandlung der Konservativen «in eine zweite Brexit-Partei» haben altbackene Tories, die lieber in der EU bleiben würden, ihre angestammte Heimat verloren.
Canterbury: Europa so nahe
Wer weiss Bescheid in Sachen Europa? Wer erkennt die besten Zitate der Brexiteers? Getestet wird bei einem «Euro-Pub-Quiz» , das in der Gemeindehalle von Tylers Hill, am Stadtrand von Canterbury, veranstaltet wird. Rund hundert Ratelustige haben sich eingefunden, verschiedener europäischer Nationalität, verschiedenen Naturells, verschiedener Parteizugehörigkeit, alle aus Canterbury. Es ist ein bisschen wie eine Verschwörung in der früh hereinbrechenden Winternacht.
Es gibt selbst gebackene Leckereien. Es wird viel gelacht, gewitzelt, man ist unter sich. Auch Rosie Duffield kann sich in diesem Kreis ein wenig entspannen. Die Abgeordnete für Canterbury weist auf die EU-Flaggen an den Wänden: «Hier in Canterbury, in dieser Ecke Englands, fühlen wir uns Europa sehr nahe.» Immerhin haben hier 55 Prozent der Wähler für den Verbleib in der EU gestimmt.
Die 48-Jährige war die grosse Überraschung der Wahl von 2017. Die Labour-Politikerin eroberte mit nur 187 Stimmen Vorsprung den Wahlkreis in der Grafschaft Kent, unweit von Dover – die Stadt mit der berühmten Kathedrale, auf konservativem Terrain. «Wir müssen Boris Johnson um jeden Preis stoppen», erklärt Duffield. Er habe die Tories regelrecht gekidnappt. Er habe sie «zu einer Partei der harten Rechten» gemacht.
Ihre eigene Partei hat allerdings auch ihre Probleme. Eins der grössten ist der Vorsitzende Jeremy Corbyn. Leidenschaftliche Brexit-Gegner bei Labour fragen sich, ob der Labour-Chef es mit der weiteren Nähe zur EU überhaupt ernst meint. Ganz abgesehen vom hartnäckigen Vorwurf des Antisemitimus gegen Corbyns «Regime».
Liberale, grüne, parteilose Pro-Europäer haben sich hinter Duffield versammelt. In Wahlkreisen wie Canterbury herrscht bei den Brexit-Gegnern die Hoffnung, dass ein möglicher Kollaps des «roten Walls» im Norden anderswo durch Regenbogen-Enthusiasmus und taktisches Wählen wettgemacht werden kann – und dass Boris Johnson noch in letzter Minute ein Strich durch die Brexit-Rechnung gemacht wird.
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