Wenn die halbe Identität offline geht
In der Klinik Selhofen werden neuerdings auch Online- und Mediensüchige therapiert. Ein Novum. Die Resonanz ist gross – allerdings weniger bei den Betroffenen selbst.

Teenager, die am Smartphone kleben und ihre Freunde fast nur in sozialen Medien treffen. Erwachsene, die virtuelle Welten oder andere Existenzen abseits ihres Alltags aufbauen. Halbstarke, die mit Ego-Shootern ihr Dasein erweitern. Wo endet da das Mass der Dinge, wo greift eine Abhängigkeit?
Seit diesem Jahr ist die Suchtklinik mit Ambulatorien in Burgdorf, Bern und Biel Anlaufstelle für Medien- und Onlinesüchtige. Seither häufen sich die Anfragen von Angehörigen. «Bei ihnen ist die Bereitschaft, jemanden stationär in Behandlung zu geben, grösser als bei den Betroffenen selber», weiss Regine Gysin, stellvertretende Geschäftsführerin der Klinik.
Den Betroffenen selber mangelt es an Problembewusstsein oder an der Bereitschaft zur Behandlung. Meistens sei es der Leidensdruck der Folgen, der die Betroffenen in eine Behandlung treibe, sagt Simone Tschopp, Psychologin. Etwa dann, wenn sie den Job verlieren.
Umgang mit den Handy lernen
Die Unterscheidung indes geht weiter. Natürlich könne es sein, dass die Fixierung auf das Smartphone oder der exzessive Umgang mit sozialen Medien teils auch behandlungswürdig sei, sagt Gysin. Fakt sei aber, dass beides aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sei. «Man muss lernen, damit umzugehen», sagt Gysin. Und zerstört damit die Hoffnungen jener Eltern, die ihre Töchter und Söhne vorbeigebracht hätten, um sie vom Smartphone zu entwöhnen.
«Gamesucht nimmt in der Onlinesucht eine prägnante Stellung ein.»
Auf den stereotypen Gamer, der irgendwann nicht mehr aus dem Haus geht, Hygiene und Beziehungen vernachlässigt, stellt sich die Klinik ein. «Gamesucht nimmt in der Onlinesucht eine prägnante Stellung ein», sagt Gysin. Die Frage, die sich stelle, sei wie bei allen Süchten, inwiefern jemand im System bestehen könne. Das Bild der realen und virtuellen Welt wird verzerrt.
Verankern Gamesüchtige wieder im Alltag: Regine Gysin (links), stellvertretende Geschäftsführerin, und Psychologin Simone Tschopp. Thomas Peter
Der Zeitfaktor, sagt Tschopp, spiele eine grosse Rolle. Diese Diskrepanz der Welten fällt bei zwei Stunden täglich nicht stark ins Gewicht, bei zwölf und mehr Stunden jedoch schon. Im Netz erfährt dieser Stereotyp reale Bestätigung. So sehr, dass er im realen Leben den Tritt verliert.
Abschied statt abschalten
Auch bei ihm sei ein kalter Entzug nicht immer die Lösung, sagt Tschopp. Den Computer einfach auszuschalten, könne traumatisierend sein. Denn je nach Onlinespiel werden Status, Verpflichtungscharakter und Vernetzung stark gewichtet. Sie nennt das Beispiel eines Mannes, der in seiner Parallelwelt 200 Angestellte beschäftigte und Abteilungsleiter führte – während ihm sein eigenes Leben völlig entglitten war. «Dieses andere, erfolgreiche Leben und damit die halbe Identität aufzugeben, wiegt schwer», sagt Gysin.

Das gilt auch für die Frau, die sich abseits ihres «echten» ein virtuelles Leben mit Mann und Kindern aufgebaut und letzteres stärker gewichtet hatte. Eine Verabschiedung aus diesen Strukturen ist Teil der Therapie.
Karge Behandlungslandschaft
Die Klinik Selhofen mit ihren 28 Betten ist auf Süchte spezialisiert, die auf Substanzen beruhen. Seit 2012 führt sie ein Programm für Leute, die von mehreren abhängig sind. Mit dem Angebot für Medien- und Onlinesüchtige stösst die Klinik in den Bereich der Verhaltenssüchte vor.
Auf der Suche nach einer sinnvollen Ergänzung – und weil man diese Thematik auch bei eigenen Patienten erkannt habe. «Es wird nicht immer nur um die Gamesucht gehen», folgert Gysin. Es könne auch sein, dass hinter dieser Sucht eine Depression oder Sozialphobie versteckt.
«Für uns ist das auch noch eine Blackbox», sagt Regine Gysin, die den Bedarf im Austausch mit anderen Kliniken abgeklärt hat. Umso mehr, als die Angebotslandschaft noch karg ist. In Deutschland sind es ein halbes Dutzend spezialisierte Kliniken, in der Schweiz nebst dem spezialisierten Angebot der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel nur vereinzelte Angebote, die meisten nicht stationäre Einrichtungen, mehr psychosoziale Beratung. Hier finden etwa Eltern Unterstützung, wenn der Sohn die Lehre schmeisst.
In der Klinik Selhofen steht die Therapie im Vordergrund. Um die Patienten kümmert sich ein interdisziplinäres Team psychotherapeutisch. Ihr Ziel: Die Leute wieder stärker im Alltag verankern. Das gilt für alle Suchtkranken, unabhängig von Verhalten oder Substanz.
Ausgangspunkt der Behandlung ist eine Diagnose. Wie bei allen krankenkassenfinanzierten stationären Behandlungen tragen diese 45 Prozent der Kosten für die Therapie, 55 Prozent der Kanton.
Grün – Orange – Rot
70 Prozent der Selhofen-Patienten sind abhängig von Opiaten. 10 bis 15 Prozent wollen hier vom Alkohol loskommen. Über die Hälfte aller ist von mehr als zwei Substanzen abhängig.
Die Regeln im Haus sind daher strikt. Konsum und Besitz von Alkohol, Amphetaminen, Cannabis, Kokain, Halluzinogenen, Opiaten und nicht verschriebenen Medikamenten ist in der Klinik Selhofen verboten – auch während Ausgängen und Urlauben.
Ob die Patienten «sauber» sind, ist im Falle von Drogen oder Alkohol einfach zu kontrollieren – beim Verhalten nicht. Die Therapie baut aber ebenfalls stark auf Selbstverantwortung. Dazu arbeiten die Psychologinnen vor Ort mit dem Symbol einer Ampel: Dem roten Bereich werden jene Situationen oder Orte zugeordnet, die unterdrückt werden müssen. Orange sind die, welche in die Nähe dieser Situationen führen, während von Grün keine Gefahr ausgeht.
30 Prozent der Patienten brechen erfahrungsgemäss ab. Im Schnitt bleiben die stationär Betreuten 30 Tage.
Erste ambulante Patienten
Die ersten Patienten, die der Gamesucht verfallen sind, werden derzeit ambulant betreut. Einer ist ein ehemaliger Gamer, der das Bedürfnis überwunden hat, aber mit einer anderen Abhängigkeit zu kämpfen hat. Die anderen sind junge Gamer, sagt Tschopp.
Wobei natürlich nicht alle Gamer jung seien: Mitte 30, auch über 40 Jahre sei keine Seltenheit. Vertreten sind unter den Onlinespielern alle Altersklassen, alle gesellschaftliche Schichten. Was natürlich nicht heisst, dass sie auch alle unter Abhängigkeiten leiden.
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