Wenn die Baby-Liebe zum Erstgeborenen versiegt
Unsere Autorin sah sich nach der Geburt des zweiten Kindes mit einem ziemlich komplexen familiären Drama konfrontiert.

Das erste Problem, das man mit dem zweiten Kind hat, ist der richtige Zeitpunkt. Oder besser, der überhaupt irgendwie mögliche Zeitpunkt. Denn die Frage nach dem zweiten Kind steht oft genau dann an, wenn der grösste Stress mit dem ersten Baby endlich in ein etwas ruhigeres Fahrwasser mündet, die Schattierung der Augenringe sich von schwarz zu zartem Blau aufhellt und sich plötzlich wieder die ferne Erinnerung einstellt, dass man einst ein Leben jenseits von Windeln, Babybrei und nächtlichem Geschrei hatte. Diejenigen Eltern, die sich dann doch dafür entscheiden, sehen sich neun Monate später nicht nur mit den wohlbekannten Problemen, sondern auch einem neuen, ziemlich komplexen familiären Drama konfrontiert.
Mir ging es nämlich, wie den meisten Eltern. Bis ich mein zweites Kind zu nächtlicher Stunde zu Hause aus meinem Bauch presste, beschäftigte mich die Frage, ob es möglich sein würde, ein weiteres Kind genau so unbedingt zu lieben, wie das erste und suchte Zuflucht bei der Vorstellung, dass es beim zweiten Kind auch nicht anders sein würde, als beim ersten. Ich lag falsch. Wie falsch, eröffnete sich mir, als ich meinen neu geborenen Sohn dabei beobachtete, wie er gegen jede Wahrscheinlichkeit und mit erstaunlicher Kraft meinen Bauch zu den Brüsten hoch robbte, wo er sein erstes Frühstück einzunehmen gedachte. Das war ganz anders, als beim ersten Baby. Und es war auch ein ganz anderes Baby, was mich ziemlich erstaunte.
Das veränderte auch den Blick auf meine inzwischen dreijährige Tochter. Sie war nicht mehr das Baby aller Babies. Ja, sie war überhaupt kein Baby mehr, wie mir mit schockierender Unmittelbarkeit bewusst wurde. Mit ihr war geschehen, was ich mich früher nie hatte vorstellen können: Sie war zu einem kleinen Mädchen herangewachsen, das selber gehen und essen, das protestieren und Fragen stellen konnte. Und als sie mit mit grossen Augen zu wissen verlangte, wann genau die Hebamme das Baby denn gebracht habe, überkam mich das Gefühl, dass unsere Zeit der Unschuld irgendwie vorbei war.
Wir hatten uns natürlich alle auf die neue Situation einzustimmen versucht. Doch mein Elan, der Tochter kein bisschen weniger Aufmerksamkeit schenken zu wollen als zuvor, und natürlich als dem Neuankömmling, erlahmte schnell. Die Arbeit mit einem weiteren Kind wird nicht weniger und die Energie auch nicht mehr. Geschlagen ergab ich mich der Einsicht, dass ich mein kleines Mädchen nicht mehr lieben konnte wie zuvor. Sie war nun die Grosse. Musste Rücksicht nehmen. Und verzichten.
Und das war erst der Anfang. Nach vier Monaten stieg ich wieder voll ins Arbeitsleben ein. Zum Stillen und den schlaflosen Nächten kamen wiederkehrende Ohrenentzündungen. In totaler emotionaler Erschöpfung, kam das Wenige, was ich noch zu bieten hatte, dem Baby zugute und nun plagte mich ein zweifaches schlechtes Gewissen: Ich konnte das neue Baby nicht so uneingeschränkt lieben, wie damals meine Tochter. Diese wiederum war keineswegs gewillt, das Feld mütterlicher Aufmerksamkeit kampflos aufzugeben, weshalb sie sich mit immer grösserer Vehemenz auf mich warf, um Nähe und Geborgenheit einzufordern.
In solchen Situationen musste ich immer wieder an die Katzen aus meiner Kindheit denken. Sie bringen Junge zur Welt, säugen sie und kümmern sich um sie. Und eines Tages ist fertig. Wenn die Jungen sich den Zitzen nähern, werden sie verscheucht und angefaucht. Sie taten mir immer leid, diese kleinen Kätzchen, die vom einen Tag auf den andern gross sein müssen. Auch meine Tochter tat mir leid, wenn ich sie zischend abwehrte, während ich mich um das Baby kümmerte. Ist es unmöglich, gerecht zu lieben, fragte ich mich. War die Liebe zu meiner Tochter gar nicht persönlich, liebte ich nur das Baby in ihr, eine Liebe, die nun ihrem Bruder zugute kam? Ist es wirklich so, dass die Kleinen in einer privilegierten Lage sind?
Inzwischen sind beide keine Babies mehr. Aber noch immer ist der Bruder der Kleine. Und zu der absolut intimen Beziehung, die man mit seinem ersten Kind führt, habe ich mit meiner Tochter nicht mehr zurückgefunden. Das mag für sie nicht einfach sein, aber es ist der Lauf der Dinge, wie ich mir immer sage, wenn ich an die Kätzchen zurückdenke. Vielleicht sollte ich ihr trotzdem die Katze kaufen, die sie sich immer gewünscht hat.
Dieser Artikel wurde erstmals am 3. Juni 2010 publiziert und am 15. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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