Wenn das Baby im Bauch stirbt
Das Thema «Stille Geburt» ist ein Tabu – was es den Betroffenen noch schwerer macht, ihr Schicksal zu verarbeiten. Eine Mutter erzählt.

Eineinhalb Jahre ist es her, seit Nadja Pallottas Sohn Aurelio zur Welt gekommen ist. Ihr zweites Kind. In ihrem Herzen trägt sie den Kleinen immer bei sich, in ihren Armen kann sie es nicht tun: Aurelio war bereits tot, als er das Licht der Welt erblickt hat.
Die sogenannte Stille Geburt, die Geburt ohne Babygeschrei, ist häufiger, als man bisweilen annimmt. Alleine vergangenes Jahr verzeichnete die Schweiz 357 Totgeburten. Von der Statistik erfasst werden nur diejenigen Babys, die nach der 22. Schwangerschaftswoche oder mit einem Gewicht von mindestens 500 Gramm zur Welt gekommen sind. Trotz mehr als 300 betroffener Elternpaare jährlich hört und liest man kaum über das Thema. Zu grausam ist die Vorstellung, sein Baby nur noch tot in die Arme schliessen zu können. Darüber will niemand nachdenken, geschweige denn reden. Was es den Betroffenen noch schwerer macht, ihr Schicksal zu verarbeiten.
Auch Nadja Pallottas Baby ist in ihrem Bauch gestorben, im neunten Monat. «Ich hatte ein ungutes Gefühl, trotzdem war es ein Riesenschock, als der Arzt mir meinen schlimmsten Verdacht bestätigt hat.» Die häufigste Erstreaktion betroffener Schwangerer sei, dass sie das Baby so schnell wie möglich loswerden wollten. «Es fühlt sich plötzlich an wie ein Fremdkörper und soll nur noch raus», sagt Pallotta. «Oft werden diese Gefühle begleitet von einem schlechten Gewissen, weil man sich so etwas nicht zu denken erlauben will.» Dabei pressiert es rein medizinisch gesehen in der Regel nicht: Solange die Fruchtblase intakt ist, kann man nach dem Befund nochmals nach Hause gehen und sich in Ruhe Gedanken darüber machen, wie man das Kind zur Welt bringen will.
Trotzdem natürlich gebären
Experten empfehlen, das Kind auf natürlichem Weg zu gebären, wenn es irgendwie möglich ist. Das mag für Aussenstehende grausam klingen: Welche Frau will noch die Strapazen einer stundenlangen Geburt auf sich nehmen, wenn das Kind bereits gestorben ist? Pallotta jedoch sagt, es sei wichtig, die Schwangerschaft so abzuschliessen. «Man hat Zeit und kann bei der Geburt durchaus auch noch schöne Momente erleben.» Sie räumt allerdings ein, dass der Vorgang psychisch auch sehr schmerzhaft sei. Und körperlich anstrengend, weil das tote Kind nicht mehr aktiv mithelfen kann.
Im Moment der Geburt starb Pallottas Baby gefühlsmässig noch einmal. «Man hofft bis zuletzt auf ein Wunder, fleht das Kind an, zu atmen.» Doch Aurelio atmete nicht. Und es galt, zum zweiten Mal Abschied zu nehmen.
Dieses Abschiednehmen kann einige Tage dauern. «Es kommt immer häufiger vor, dass die Eltern ihr tot geborenes Baby noch mit nach Hause nehmen», sagt Pallotta. Zwar brauche man dabei intensive professionelle Begleitung, doch dann sei das ein guter Weg, um sich gemeinsam mit der ganzen Familie vom Kind zu verabschieden. «Gerade für grössere Geschwister ist es wichtig, dass sie das Kleine noch sehen und spüren können. Damit sie den Tod besser verstehen.»
Macht dieses Nachhausenehmen den endgültigen Abschied und das Sichloslösen nicht noch schwieriger? «Da gibt es kein schwieriger oder weniger schwierig», sagt Pallotta, «der Zeitpunkt des endgültigen Abschieds ist sowieso brutal.»
Nadja Pallotta erzählt, dass sie nach der Totgeburt von Aurelio komplett überfordert gewesen sei, aber trotzdem irgendwie weiterfunktioniert habe. «Ich konnte allerdings gar nicht mehr wahrnehmen, was ich will und brauche.» Gerade deshalb sei es so wichtig, dass das Umfeld sich Gedanken mache. «Man kann etwas zu essen vorbeibringen oder anbieten, ein grösseres Geschwister zu hüten», sagt Pallotta. Und man dürfe ruhig auch offen sagen, dass man sprachlos sei und die richtigen Worte nicht finde. «Jede Art des Mitgefühls und Trosts tut gut. Nur den Satz ‹Du kannst ja wieder schwanger werden› will in dem Moment ganz sicher keine Frau hören.»
Gratulieren zum Elternsein
Was sie hingegen sehr schön gefunden habe: dass die Hebamme im Spital ihr und ihrem Mann zum Elternsein gratuliert habe. «Denn so war es ja: Wir sind zum zweiten Mal Eltern eines Sohnes geworden, auch wenn sein Geburts- zugleich sein Todestag war. Ich habe zwei Kinder und bin heute ein Erdenmami und ein Himmelsmami», sagt Pallotta. Deshalb ist es Nadja Pallotta auch wichtig, dass ihre Freunde und Bekannten Aurelio beim Namen nennen, «es geht dabei um Wertschätzung und Akzeptanz».
Die Gesellschaft solle anerkennen, dass auch Eltern von Sternenkindern Eltern sind. Pallotta ärgert es enorm, dass «die Behörden so blöd tun und Babys, die vor der 22. Woche geboren wurden oder unter 500 Gramm gewogen haben bei der Geburt, nicht als Totgeburt bezeichnen, sondern als Fehlgeburt.» Die Folge: Das Kind kann nicht im Familienbüchlein eingetragen werden, hat rechtlich gesehen nie als eigenständiger Mensch existiert.
Nicht nur die Behörden, auch Freunde sorgen bei Pallotta manchmal für Enttäuschung. So versteht sie nicht, weshalb ihr Umfeld die Geschichte so schnell abhaken kann, während diese für sie selber nach wie vor so präsent ist. Und sie fühlt sich im Stich gelassen, wenn Freunde nicht an die Feier zum ersten Todestag ihres Sohnes kommen wollen, weil es ihnen zu sehr weh tue. «Dabei tut es mir selber noch mehr weh, und ich habe sie doch eingeladen, weil es mir wichtig war, sie an diesem speziellen Tag in meiner Nähe zu haben», sagt Pallotta. Mittlerweile könne sie solche Reaktionen, die aus Überforderung geschehen, zwar etwas besser zur Seite schieben. «Aber im ersten Moment fand ich diese Hilfeverweigerung total daneben.»
Die Fachstelle Kindsverlust unterstützt Betroffene und deren Angehörige kostenlos per Mail und Telefon, vermittelt Fachpersonen und gibt Antworten auf rechtliche Fragen.
Dieser Artikel wurde erstmals am 8. August 2016 publiziert und am 19. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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