Wegen Brexit droht bürokratischer Albtraum für Unternehmen
Abertausende Finanzkonstrukte müssen wegen des Brexit womöglich umgeschrieben und auf den Kontinent verlegt werden.

Wenn die EU-Staats- und -Regierungschefs heute Abend in Brüssel zum Brexit-Gipfel zusammenkommen, gibt es für sie nichts zu entscheiden. Denn noch immer liegt kein Entwurf zu einem britischen Austrittsvertrag vor, weil sich die Londoner Regierung und die EU-Kommission in einem wichtigen Punkt nicht handelseinig sind. Dieser betrifft die Festlandgrenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und lässt sich auf die Frage eindampfen: Wie kann sichergestellt werden, dass dort künftig keine Grenzkontrollen stattfinden?
Ob London und Brüssel in der noch verbleibenden knappen Zeit zum Handschlag kommen werden, ist ungewiss. Der irische Regierungschef Leo Varadkar gab sich dieser Tage optimistisch und meinte, er sehe November oder Dezember als voraussichtlich beste Gelegenheiten für eine Einigung. Ein längeres Zeitfenster für Verhandlungen ist kaum möglich: Am 29. März 2019 scheiden die Briten definitiv aus der EU aus, und vorher müssen das britische und das EU-Parlament einen allfälligen Austrittsvertrag noch gutheissen.
In einem solchen Vertrag wären neben der Irland/Nordirland-Grenze noch weitere zentrale Themen geregelt, wie etwa die britischen Ausgleichszahlungen an die EU in Höhe von knapp 40 Milliarden Pfund, die Rechte der in Grossbritannien lebenden EU-Bürger und umgekehrt der in der EU niedergelassenen Briten sowie eine Übergangsperiode von 21 Monaten, in der die künftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Grossbritannien und der EU ausgehandelt werden können.
Immenser Aufwand
Davon abgesehen hoffen auch zahllose europäische Unternehmen, deren Kredit- und Finanzströme über die Londoner City laufen, sehnlichst auf den Abschluss eines formellen Austrittsvertrags. Denn falls ein solcher Vertrag nicht zustande kommt, würde Grossbritannien in gut fünf Monaten ohne Übergangsphase aus der EU ausscheiden und dadurch aus Sicht der verbleibenden 27 EU-Mitglieder gleichsam über Nacht zu einem Drittstaat zurückgestuft.
In der Folge müssten die im EU-Raum ansässigen Unternehmen all ihre syndizierten Kredite sowie Derivate zur Absicherung von Währungs-, Zins- und anderweitigen Risiken, die sie über Banken mit Sitz im Königreich abgeschlossen haben, auf Institute in der EU übertragen. Denn ein vertragsloser Zustand zwischen Grossbritannien und der EU würde eben auch bedeuten, dass die besagten, in London gebuchten Finanzkonstrukte keiner EU-Regulierung mehr unterstellt wären.
Der Aufwand für die betroffenen Unternehmen, der aus einer solchen Verlegung und Neuaufsetzung der Finanzkontrakte erwachsen würde, wäre immens. Tangiert von einer solchen Übung – im Fachjargon «Repapering» genannt – seien «Tausende und Tausende» von Verträgen, sagte der Leiter des europäischen Firmenkundengeschäfts von J.P. Morgan Chase dieser Tage dem «Wall Street Journal».
Wie der britische Ableger des Unternehmensberaters Boston Consulting Group (BCG) schätzt, müssen wohl Kredite, Wertpapiere und Derivate in einer Grössenordnung von 2400 Milliarden Euro in die EU transferiert und entsprechend umgeschrieben werden. Diese enorme Summe kommt dadurch zustande, weil laut BCG etwa 68 Prozent des in London abgewickelten Wertpapierhandels im Auftrag von Kunden aus dem EU-Raum erfolgen.
Abfederung mittels Äquivalenzstatus
Weitaus weniger gravierend wären die Folgen, wenn die EU dem britischen Finanzplatz im Rahmen eines Austrittsvertrages den sogenannten Äquivalenzstatus gewähren würde. Mit einem solchen Schritt würde Brüssel den Briten attestieren, dass ihre den Bankensektor betreffenden Regulierungen mit den in den EU-Staaten geltenden vergleichbar sind. Dies wiederum erlaubte es den im Königreich ansässigen Geldhäusern, von dort aus wenigstens eine beschränkte Palette an Dienstleistungen für europäische Kunden anzubieten.
Mit einer Äquivalenzzuerkennung für Grossbritannien könnte auf jeden Fall der «Repapering»-Aufwand deutlich reduziert werden – und ein solcher Status würde aller Voraussicht nach eine Übergangsfrist mit einschliessen, sodass ein harter regulatorischer Schnitt von einem Tag auf den andern vermieden werden könnte. Apropos «Repapering»-Aufwand: Wer die Kosten für die Verlegung und Neuaufsetzung der Abertausenden von Finanzkontrakten letztlich tragen wird – die involvierten Banken oder ihre Unternehmenskunden –, ist in Expertenkreisen noch eine offene Frage. Wie der Ausgang der Brexit-Verhandlungen insgesamt.
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