Wege aus dem Neokolonialismus
Afrika soll wieder das spirituelle Zentrum der Welt werden. Dies erhofft sich der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr in seinem neuen Essay «Afrotopia».

Vor rund 50 Jahren wurden die letzten europäischen Kolonien in Afrika in die Unabhängigkeit entlassen. Obwohl seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich autonom, stecken viele in einer Dauerkrise. Diese Krise, so der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest «Afrotopia», bestätigt und aktualisiert laufend die Stereotypen von Afrika als einem finsteren, katastrophischen Ort und vom Afrikaner als minderwertigem Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiss – das Bild also, das bei den Europäern massgeblich dazu beigetragen hat, Sklavenhandel und Kolonialismus zu legitimieren.
Afrikas Krise hält aber nicht nur die westlichen Vorurteile am Leben, es hält auch bei den Afrikanern selbst die Wunden offen, die eigentlich längst hätten verheilt sein können.
Europas Anteil
Der 46-jährige Felwine Sarr versucht in seinem Essay, mit den Legenden aufzuräumen, die diese negative Feedbackschleife am Laufen halten: Ja, die korrupten Potentaten, die nach der Unabhängigkeit vielerorts an die Macht kamen, tragen grosse Schuld an Afrikas Problemen. Doch Europa, wo sich bis heute die Vorstellung hält, man habe Afrika die Zivilisation gebracht, vergesse oft, wie gross der eigene Anteil an Afrikas Krise sei.
Dass ein Kontinent, der nach einigen Schätzungen direkt und indirekt 225 Millionen Menschen durch den Sklavenhandel verloren habe, Jahrhunderte brauche, um sich zu erholen; dass die Nachfolgestaaten von Belgisch-Kongo, das in der Kolonialzeit die Hälfte seiner Bewohner verloren habe, bis heute geschwächt seien, liege auf der Hand. Ganz zu schweigen vom nicht quantifizierbaren Verlust von Arbeitskraft und Bodenschätzen an europäische Geschäftemacher und Konzerne, deren heutige Marktmacht nicht selten direkt auf die Ausbeutung Afrikas zurückgeht.
Doch es sind weniger die Europäer, die Sarr aufklären will, als die Afrikaner, die das finstere Bild ihres Kontinents oft unhinterfragt vom Westen übernehmen. Dies führt zu einer Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln: wenn afrikanische Länder westlichen Konzernen gegen schnelles Geld Abbaurechte für Bodenschätze abtreten; oder wenn sie sich von China um den Preis der eigenen Unabhängigkeit Häfen oder Eisenbahntrassen bauen lassen.
Hinter all dem steht Sarrs Befund, dass die Afrikaner die geistige Selbstermächtigung, die die politische Unabhängigkeit hätte begleiten müssen, nie vollzogen haben. Sie haben nicht nur die westliche Wirtschaftsideologie mit ihrem Glauben an Fortschritt und Wachstum nie in Zweifel gezogen, sie haben auch deren Universalitätsanspruch übernommen.
Um in der Welt anerkannt zu werden, schien ihnen nichts anderes zu bleiben, als sich in die Rolle des minderbemittelten Schülers des Westens zu fügen, der auf das Lob der Lehrer hofft, weil er «die Lektion gut gelernt und das Gelernte richtig angewandt» hat. «Man wünscht sich, in derselben Stimmlage zu spielen wie die anderen Musiker, möchte auch auf dem Familienfoto zu sehen sein, genauso gekleidet wie die anderen.» Doch diese Lehrer, die westlichen Industrienationen, haben in den letzten Jahren dramatisch an Autorität verloren. Die Klimakatastrophe, die Krise ihrer Demokratien, die soziale Ungerechtigkeit, das Unbehagen an der Globalisierung: All das mehrt die Zweifel an der bis vor kurzem als alternativlos geltenden westlichen Marktwirtschaft.
Zurück zum Eigenen
Für Felwine Sarr ist der Moment gekommen, an dem Afrika nach der politischen auch seine geistige Unabhängigkeit erstreiten muss. Ausgangspunkt dafür müsse die Einsicht sein, dass Afrikas ausbleibende Erfolge in westlichem Wirtschaften – trotz der jungen Bevölkerungen, trotz des Reichtums an Bodenschätzen – nicht auf die Unfähigkeit Afrikas zurückzuführen sei, sondern darauf, dass dieses Wirtschaftssystem im Dauerkonflikt stehe mit Afrikas Kultur.
Wenn Afrika sich aus seiner gegenwärtigen Falle befreien, sein ganzes Potenzial erschliessen wolle, dann müsse es seine Minderwertigkeitskomplexe überwinden und eine eigene, neue Praxis des Wirtschaftens und Lebens entwickeln, die nicht nur westliche Werte und Methoden enthielte, sondern vor allem auch die afrikanischen Traditionen revitalisieren würde, die lange als primitiv diskreditiert wurden. Heute erscheinen sie aber wieder zukunftsweisend, weil sie Prinzipien wie Nachhaltigkeit, Gemeinwohl oder Achtsamkeit folgten, lange bevor der Westen begonnen hat, sie in seinen Kapitalismus einzubauen. Am Ende der afrikanischen «Kulturrevolution» muss für Afrika die «Wiederherstellung des eigenen Spiegelbilds» stehen.
Afrika kann erst dann aufblühen, wenn es die Entfremdung und das Abgeschnittensein von seiner eigenen Kultur hinter sich lässt.
Natürlich weiss Sarr, wie leicht man sein Pochen auf die afrikanische Tradition als Rückwärtsgewandtheit missverstehen kann. Dennoch hat man seinem düsteren Bild vom Westen wenig entgegenzusetzen. Wie auch seinen Zahlen: In einem Vierteljahrhundert wird Afrika ein Viertel der Weltbevölkerung beheimaten. Wer wollte so überheblich sein, sich über die Emphase zu mokieren, mit der Sarr die Revolution ausruft, die Afrika wieder zum «spirituellen Zentrum der Welt» macht?
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