Lesende fragen Peter SchneiderWarum wissen Männer nicht mehr, was es bedeutet, ein Mann zu sein?
Geschlechterkategorien weichen sich zunehmend auf. Unser Kolumnist sinniert über den unaufhaltsamen Lauf der Zeiten – und widerlegt die These von der Natur als unhintergehbare Ordnung.

Ich habe gelesen, dass bei unter 35-jährigen Männern nur noch 12 Prozent wissen, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Bei der heutigen, restlosen Gleichschaltung der Geschlechter ist dieses Resultat nicht verwunderlich. Mit Jahrgang 1948 bin ich noch in einer Zeit aufgewachsen, als grossmehrheitlich klar war, dass die Natur Frauen mit zum Teil anderen Aufgaben betraut hat. Da ich gegen allzu einengende Geschlechterklischees bin, empfinde ich es als positiv, wenn viele gesellschaftliche Bereiche geschlechtsneutral sind. Doch deutlich frauliche oder männliche Tätigkeiten sollten dem jeweiligen Geschlecht vorbehalten sein (Beispiele: Betreuung von Säuglingen, Einübung von militärischen Kampfhandlungen). Ich wäre froh, wenn Sie mir sagen könnten, wie bei jungen Männern wieder ein gesundes männliches Selbstwertgefühl hergestellt werden kann. A.H.
Lieber Herr H.
Ausgerechnet das kann ich nicht. Aber ich kann Ihnen mindestens erklären, warum nicht. Nämlich, weil sich die Zeiten ändern. Die Geschichte ändert sich weder kontinuierlich noch an allen Orten gleich. Und was wir heute für einen Verlust halten, kann morgen wie ein Fortschritt aussehen. Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Man muss den Lauf der Geschichte also nicht einfach hinnehmen, man kann ihn vorantreiben wollen (aber wohin ist voran?), man kann ihn ruhigstellen wollen (ist meistens auch nicht von Erfolg gekrönt); die beste Strategie ist erst einmal, ihn zu verstehen. Wenn nur noch 12 Prozent der jüngeren Männer wissen, was ein Mann eigentlich ist, ist das vielleicht nicht nur ein Mangel, sondern ein Indiz dafür, dass die Kategorie «Mann» wie die der «Frau» nicht mehr so stark ist wie auch schon.
Es spricht nichts gegen die Betreuung von Säuglingen durch Männer. Viele Männer sind für die Teilnahme an Kampfhandlungen wesentlich ungeeigneter als manche Frauen. (Abgesehen davon, dass man sich heute kaum mehr mit Bajonetten händisch ersticht, sondern einander mit Waffen bekämpft, bei denen körperliche Kräfte keine besondere Rolle mehr spielen.) Wenn ich mich nicht täusche, sehen Sie die Natur als das Regulativ an, das auch die Geschlechterverhältnisse regulieren sollte.
Natur als unhintergehbare Ordnung gibt es nicht. Natur ist nichts Reines, Abgeschlossenes.
Aber, und diese These ist nicht so steil, wie sie klingt: Natur als unhintergehbare Ordnung gibt es nicht, auch wenn wir immer wieder Ordnungssysteme als «natürliche» auffassen (wie etwa die Ordnung des ökologischen Gleichgewichts). Natur ist nichts Reines, Abgeschlossenes. Der Klimawandel ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie menschliche Kultur die entlegensten Winkel unserer Welt durchdringt. Die Palette von LGBTQ+ bringt die alte Ordnung durcheinander; wir sind längst alle mehr «trans», als wir meinen.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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