Warum es sich wieder lohnt, Theodor Fontane zu lesen
Zu seinem 200. Geburtstag publiziert Fontane-Kennerin Regina Dieterle eine profunde Biografie. Sie offenbart darin ein neues Charakterbild des Schriftstellers.

Fontanes Sprache verführt. Er schreibt ein hinreissendes Deutsch. Sei es in seinen Briefen oder Romanen, sei es als Balladendichter, Reiseschriftsteller, Theater-, Kunst- oder Literaturkritiker. Er ist so zugänglich, formuliert so leicht und treffsicher und liebt es gelegentlich auch frivol. Ein wunderbarer Plauderer ist er, einer, der das Plaudern zur hohen Kunst erhoben hat. Nur an den Namen, die fallen – Napoleon, Bismarck, Menzel, Hauptmann –, merken wir, dass er in einer anderen Zeit als der unseren lebte und schrieb.
Fontane öffnet Welten. Gewiss, er ist ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, geboren am 30. Dezember 1819 in Neuruppin, gestorben am 20. September 1898 in Berlin. Doch was heisst das! Wer ihn liest, wer seine Biografie verfolgt, findet sofort Zugang zu einer sehr bewegten europäischen Epoche, erlebt die rasante Veränderung in Technik und Kultur, Gesellschaft und Politik, eine Entwicklung, die uns bis heute prägt.
Fontane schreibt Zeitgeschichte. Der junge Fontane liess sich anstecken vom freiheitlichen Geist im Vormärz. Wie ihn der revolutionäre Ausbruch am Samstag, 18. März 1848, am Berliner Alexanderplatz mitriss und zugleich in Panik versetzte, hat er in seiner Autobiografie «Von Zwanzig bis Dreissig» eindrücklich erzählt.
Fontane zeigt, wie Mut geht. Fontane war diplomierter Apotheker. Aber eine eigene Apotheke führen? Er war doch ein talentierter Dichter und Schriftsteller! Mutig entschloss er sich mit dreissig Jahren, von seiner Feder zu leben. Sein Geld verdiente er zuerst als Journalist der konservativen Regierungspresse («Ich habe mich heute für dreissig Silberlinge verkauft»), dann als Regierungskorrespondent in London. Später hat er sich nicht gescheut, den ganzen Bettel hinzuwerfen, um endlich freier Schriftsteller zu werden. Nicht ganz zur Freude seiner Frau, aber dann doch mit ihrer vollen Unterstützung.
Fontane weiss, dass hinterm Berg auch Leute wohnen. Mitte der 1850er-Jahre lebte Fontane in London, zeitweise mit Frau und Kind. Hier lernte er das moderne Weltstadtleben kennen und bewegte sich wie selbstverständlich unter Engländern. Fontane, der Europäer und Kosmopolit: In London wird der Preusse hugenottischer Herkunft zum Weltbürger. Eine wichtige Voraussetzung für seine grossartigen späten Romane.
Nicht ohne Fontane durch die Mark Brandenburg radeln. Die Idee hatte ihn längst schon gepackt, als er, von London nach Berlin zurückgekehrt, sein «Wanderungen»-Projekt in Angriff nahm. In vier Bänden liegen seine Reisefeuilletons heute vor. Sie schildern die Landschaft, erzählen von den Dörfern, Schlössern und Menschen der Mark Brandenburg. Es sind Texte wie Perlen. Sie müssen mit ins Gepäck! Ob Sie radeln, durch die Kanäle schippern, mit der Bahn oder dem Auto unterwegs sind: Ein Zwischenhalt mit Fontane, am Stechlinsee etwa, steigert die Reiselust und weitet den Blick.
Fontane erzählt seine Kriegsgefangenschaft. Er hatte eben gerade seine Stelle als Redaktor bei der konservativen «Kreuzzeitung» aufgegeben und war Theaterkritiker der liberalen «Vossischen Zeitung» geworden, da brach im Sommer 1870 der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich aus. Ein gut bezahlter Auftrag als Kriegsjournalist liess ihn dann ins besetzte Frankreich reisen. Bei Domrémy geriet er in Kriegsgefangenschaft. Die genauen Umstände seiner Verhaftung und seiner Gefangenschaft auf der Ile d'Oléron hat Fontane in «Kriegsgefangen» präzise geschildert und reflektiert. Es ist sein erstes autobiografisches Werk, sehr persönlich, sehr lesenswert, und wurde noch zu seinen Lebzeiten ins Französische übersetzt.
Einer der besten Balladendichter Deutschlands. Schon früh haben Fontanes Balladen den Weg ins Schulbuch gefunden. Mit dem «Archibald Douglas», 1857 vertont von Carl Loewe, erntete der Dichter sogar über Deutschland hinaus Erfolg. Die heute wohl berühmtesten Balladen – «Die Brück' am Tay», «John Maynard», «Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland» – sind allerdings späte Würfe und entstanden wie über Nacht. «Dass es mir noch 'mal vergönnt sein würde, zu den Göttern und Hämmeln meiner Jugend zurückzukehren, hätt' ich mir nicht träumen lassen», schrieb er aufgeräumt an seinen Sohn und meinte selbstironisch, sein «Balladenkapital» sei leider das einzige Vermögen, das er seinen Kindern hinterlasse. Und wirklich, das dicke Geschäft mit Fontane machen wir erst heute.
Der alte Fontane, ein Romancier von europäischem Rang. Und dann, mit sechzig, legte er eigentlich erst richtig los. Es sind die späten Romane «Irrungen, Wirrungen» (1888), «Frau Jenny Treibel» (1892), «Effi Briest» (1895), «Der Stechlin» (1898), mit denen er ohne Zweifel zu den ganz Grossen der deutschen Literatur zählt und im selben Atemzug genannt wird mit Dickens, Flaubert, Tolstoi. Die Plots fand Fontane in historischen Stoffen, in Zeitungsmeldungen oder in seiner eigenen Lebenswelt. Es sind moderne, realistische Berliner Romane mit lebendigen Menschen, deren Schicksale er so erzählt, dass sie uns bis heute fesseln.
Frauenfiguren, Männerfiguren. Da ist zum Beispiel die junge Effi Briest. Mit siebzehn wird sie von ihrer Mutter in die Ehe mit einem älteren Mann und Karrieristen gedrängt. Sie findet diesen Geert von Innstetten anfangs auch gar nicht so übel. Erst als sie an seiner Kälte verzweifelt, rettet sie sich in eine heimliche Affäre. Fontane erzählt dies alles mit viel Empathie für Effi, verurteilt auch das Duell, das folgt, als Innstetten die längst verjährte Geschichte entdeckt und den Liebhaber totschiesst. Auch versteht er Empörung zu wecken gegen das Schicksal Effis, die zuletzt an den engen gesellschaftlichen Konventionen zerbricht. Ein «altes Ekel» sei dieser Innstetten, schrieb ihm eine junge Leserin nach der Lektüre. Worauf ihr der alte Fontane in seiner einnehmenden Art gestand, dass, «wenn dies gelten soll, alle Männer eigentlich ‹alte Ekels› sind, was vielleicht richtig ist, aber doch einer etwas strengen Auffassung entspricht».
Das poetische Kind. Der alte Fontane hat neben den Romanen auch an seiner Autobiografie geschrieben. «Meine Kinderjahre» ist das Buch, in dem er ganz zu sich selber findet. Er habe sich «an diesem Buch wieder gesund geschrieben», notierte er 1892 in sein Tagebuch. Denn die Monate zuvor hatte ihn eine tiefe Depression geplagt. Den «Kinderjahren» merkt man das nicht an. Sie sind ein herzergreifendes Bruchstück einer grossen Konfession.