Warum das Ende des Duells erst der Anfang ist
Die Geister der Konkurrenz, die Ursula Wyss und Alec von Graffenried freigesetzt haben, wird Bern nicht mehr so schnell los: Ausblick auf die Stadtberner Politik nach dem High Noon vom Sonntag – und die Wahlen von 2020.

Geschafft! Vorbei! Aus! Es gibt wohl niemanden, der das Ende des gefühlt unendlichen Wahlkampfs zwischen Ursula Wyss (SP) und Alec von Graffenried (GFL) um das Berner Stadtpräsidium nicht herbeisehnen würde. Sogar die Kandidaten haben genug. Vor lauter Überdruss vergisst man fast, dass Politik selten so spannend ist wie jetzt gerade in Bern. Es gibt keinen Favoriten, es ist ein offener Fight bis zum letzten Augenblick morgen Sonntag.
Kein Mensch kann voraussagen, wer das Rennen machen wird. Und noch weniger kann jemand abschätzen, wie sich die Entscheidung der Stadtberner Stimmberechtigten auf die Politik der nächsten Legislatur auswirkt. Wie heftig wären die Rachegefühle, wenn dem Grünen Alec von Graffenried von der Minipartei GFL der Coup gegen die mächtige SP gelänge? Verstärkt sich das latente Missbehagen gegenüber der Selbstverständlichkeit von SP-Stapis zu passivem oder aktivem Widerstand, wenn Ursula Wyss die rote Dynastie im Erlacherhof auf mindestens 28 Jahre verlängerte?
Rätselhaft ist schon, was in die Stadt Bern gefahren ist:Den Sinn des epischen Stapi-Duells interessierten Menschen von ausserhalb der Bundesstadt schlüssig zu erläutern, erwies sich als Ding der Unmöglichkeit. Zwei Mitglieder des gleichen politischen Linksbündnisses, das Ende November bei den Gemeinderatswahlen einen fulminanten Sieg feierte und vier von fünf Sitzen eroberte, streiten sich um das Stadtpräsidium: Was soll das? Selbst wer mit der ächzenden Feinmechanik der Stadtberner Rot-Grün-Mitte-Koalition vertraut ist, begreift das Ausstechen um den Stapi-Posten nur bedingt. Von aussen versteht man ohnehin nur Bahnhof.
Der Bruder- respektive Schwesterkampfum das höchste Exekutivamt wirkt wie eine historische Absurdität. Man müsste sogar sagen: In der vom Konkordanz- und Konsensgedanken durchwirkten schweizerischen Politik ist der Berner Binnenkampf eine mittlere Sensation: bündnisinterne Selbstzerfleischung live, exklusiv in der Bundesstadt.
Was man nach sechs Wochen Wahlkampf zwischen Rot und Grün sicher sagen kann: Substanzielle politische Unterschiede zwischen den beiden Kandidaten waren nicht zu finden. Beide sind als Stapi vorstellbar. Der angekündigte «Persönlichkeitswahlkampf», den die Kontrahenten führen wollten, erschöpfte sich weitgehend in der Frage, wer das imposantere Unterstützerkomitee zusammentrommelt.
In öffentlichen Debatten, die sie routiniertabsolvierten, gingen von Graffenried und Wyss stets bemerkenswert anständig miteinander um. Aber weil inhaltliche Unterschiede fehlten, musste Ersatzfutter her. Unversehens entbrannte unter ihren Supportern ein schwer kontrollierbarer Wahlkampf der niederen Instinkte. Wer lächelt netter? Wer hat das sympathischere Gesicht? Wer sieht besser aus? Mit wem könnte man wärmer werden? Wer hat das richtige Geschlecht? Das sind wohl die Fragen, die dieses politische Duell entscheiden.
Es war ein Stapi-Duell, in dem so viel gegenseitige Abneigung versprüht wurde, dass nicht mehr ersichtlich ist, was genau die RGM-Koalition noch zusammenhält.
Plötzlich tauchten seltsame Storys auf. Man erfuhr, dass Ursula Wyss vor einem Jahr am Steuer eines Mobility-Autos einen kleinen Unfall verursachte. Man erfuhr, dass Alec von Graffenried ein E-Mail an Claudine Esseiva (FDP) schickte, weil sie öffentlich machte, dass sie Wyss wählt. Was sagt das über die Stapi-Tauglichkeit aus? Auf Social Media mischten sich fanatische Fans beider Kandidaten aus der halben Schweiz ein und benahmen sich verbal teilweise gewalttätig wie Hooligans. Es war ein Stapi-Duell, in dem vermeintliche Bündnispartner in aller Öffentlichkeit so viel gegenseitige Abneigung versprühten, dass nicht mehr ersichtlich ist, was die RGM-Koalition genau noch zusammenhalten soll.
Die lang gezogene Ehrenrunde von Wyss und von Graffenriedhat Geister geweckt, die die Stadt Bern nicht mehr so schnell loswird: die Geister des exzessiven politischen Wettbewerbsdenkens. Exekutivpolitik geht in der Schweiz traditionell so, dass die wichtigen politischen Kräfte in die Regierung eingebunden sind und man dort den Konsens anstrebt. Dieses Prinzip wird auf nationaler Ebene von den polarisierenden Kräften SP und SVP seit Jahren strapaziert, CVP und FDP ziehen sukzessive nach: Lieber mit scharfem Profil auf Wahlerfolge zielen anstatt mühsam den Konsens suchen.
In der Stadt Bern geht man wohl ab Montagdieser Entwicklung einen Schritt voraus: Es ist nicht nur so, dass wegen der Absenz der Bürgerlichen rund 20 Prozent der Stadtberner Stimmberechtigten nicht mehr in der Stadtregierung vertreten sind. Das RGM-interne Stapi-Duell könnte zusätzlich eine Steilvorlage sein für mehr parteipolitischen Egoismus.
Die Stadt Bern wird zum Labor des Konkurrenzdenkensunter politischen Freunden. Unvorstellbar, dass sich nach dem hinter den Kulissen erbittert geführten Stapi-Duell wieder der nette Koalitionsalltag einstellt und sich alle verhalten, als hätte es die letzten sechs Wochen nicht gegeben. Ich-AGs werden in der Stadtberner Politik mit Blick auf die Wahlen 2020 Auftrieb erhalten, die Verbindlichkeit von Abmachungen wird brüchiger, die politische Entscheidfindung rauer. Das muss angesichts der Übermacht von RGM nicht einmal ein Nachteil sein. Sicher ist: Es wird nicht nur am Sonntag spannend. Sondern die nächsten vier Jahre.
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