Verkanntes GehirntrainingVon Hand schreiben macht schlau
In Zeiten der Digitalisierung schreiben immer weniger Menschen mit der Hand. Das hat auch Auswirkungen auf unser Gehirn. Denn für die Handschrift braucht es Köpfchen.

Egal, ob kunstvoll geschwungen, Sauklaue oder einfach nur Druckschrift: Die Handschrift ist etwas ganz Individuelles. «Sie ist Ausdruck der Persönlichkeit», sagt Iris Meier, diplomierte Grafologin und Coach aus Küssnacht SZ. «Indem wir ein Schreibgerät in die Hand nehmen, folgen wir den Befehlen des Hirns – und bringen uns in Schreibbewegung, die wiederum in unserer Schrift festgehalten wird.»
Der Seelenzustand und das Zentralnervensystem sind für das Schriftbild jeder Person verantwortlich. Die Handschrift ist also auch Hirnschrift. Das bestätigt Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich: «Der motorische Kortex im Hirn steuert die Feinjustierung der Handbewegungen. Sprachliche Prozesse sind ebenfalls eingebunden, da Sprache zu Papier gebracht wird. Dazu kommen Vorstellungskraft, Kreativität, Rechtschreibung und Erinnerungsvermögen. Schliesslich schreibt man nicht nur Wörter auf, sondern Sätze, Gedanken, Geschichten.»
«Schreiben mit der Hand regt die Kreativität an.»
Iris Meier doppelt nach: «Schreiben mit der Hand regt die Kreativität an und hilft, die Gedanken zu sortieren. Wir können nichts schreiben, ohne uns vorher darüber Gedanken gemacht zu haben.»
Die Handschrift entsteht also nicht einfach aus einer Laune des oder der Betroffenen heraus, sondern sie ist das Resultat eines komplexen und langen Prozesses. Im Folgenden beantworten wir die spannendsten Fragen rund ums Schreiben:
Wann wird die Händigkeit festgelegt?
Gemäss Studien nuckeln Ungeborene bereits ab der 15. Schwangerschaftswoche häufiger an ihrem rechten Daumen als am linken. Entwicklungspsychologe Moritz Daum: «Testete man die Händigkeit dieser Kinder zwölf Jahre später, so waren all jene rechtshändig, die als Föten am rechten Daumen genuckelt hatten. Das spricht für einen starken genetischen Einfluss auf die Händigkeit.»
Wie viele Linkshänder gibt es?

Etwa 15 Prozent aller Menschen sind Linkshänder. Heute undenkbar, doch bis in die 1970er-Jahre wurden Kinder, die mit links schrieben, auf rechts umgeschult. Teilweise wurde den Betroffenen die linke Hand eingebunden, oder es gab Strafen, wenn sie mit der falschen Hand schrieben.
Moritz Daum: «Die Handschrift von früh umgeschulten Linkshändern sieht genauso einheitlich und filigran aus wie diejenige von Rechtshändern. Weil nicht nur die Hand, sondern auch das Gehirn teilweise umgeschult wurde. Höhere kognitive Funktionen wie die Planung und Kontrolle der Bewegungen finden aber immer noch in der eigentlich dominanten Hirnhälfte, der Gegenseite, statt, bei umgeschulten Linkshändern also in der rechten Gehirnhälfte. Bei echten Rechtshändern ist es die linke Gehirnhälfte.»
Beginnt das Schreiben erst in der Schule?
Nein. Schon früh zeigen sich Vorläufer des Schreibens. So «schreiben» Kleinkinder etwa Einkaufszettel für ihre Puppe oder ihren Teddy. «Selbst wenn Erwachsene den Inhalt nicht verstehen, zeigt sich das Grundkonzept der Schrift deutlich: Die Wörter stehen in einer Reihe, die Schrift geht von links nach rechts. Die Schrift ist bereits symbolisch, und die einzelnen Zeichen haben jeweils eine eigene Bedeutung», sagt Entwicklungspsychologe Daum.
Stirbt die «Schnürlischrift» aus?
Sagen wir es so: Sie liegt auf der Intensivstation. Viele Generationen von Kindern mussten in der Schule lernen, verbunden zu schreiben. Inzwischen ist die 1947 von den Deutschschweizer Kantonen eingeführte Schweizer Schulschrift – besser bekannt als «Schnürlischrift» – jedoch ein Auslaufmodell.
Viele Buben und Mädchen lernen nur noch die teilverbundene Basisschrift. Gemäss einer Untersuchung der Pädagogischen Hochschule Luzern schreiben Dritt- und Viertklässler dank ihr leserlicher und flüssiger.
Was sagt die Handschrift über jemanden aus?
«Eine hundertprozentige Wahrheit gibt es nicht», sagt Grafologin Iris Meier. «Wir können aus der Handschriftprobe Charakterstärken und Schwächen erkennen, nicht aber die tatsächlichen Handlungen.»
Bei Bewerbungen wird nur noch selten eine Handschriftprobe verlangt, auch grafologische Gutachten werden im Job-Selektionsprozess kaum mehr erstellt. Manchmal geben sie aber auch heute noch wertvolle Hinweise – vor allem dann, wenn aufgrund der Zeugnisse, Referenzen und des persönlichen Eindrucks mehrere valable Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stehen.
Ist es egal, ob jemand von Hand oder mit dem Computer schreibt?

Nein. Motorik- und Sprachspezialist Daum erklärt: «Manche Studien zeigen, dass handschriftliches Schreiben zu besserer Buchstabenverarbeitung führt als Tippen.» Studierende, die während der Vorlesungen handschriftliche Notizen gemacht hatten, konnten sich besser an die Lerninhalte erinnern als jene, die den Laptop benutzt hatten. «Beim Schreiben mit der Hand können weniger Wörter pro Zeiteinheit geschrieben werden, und der gehörte Inhalt muss bereits gedanklich kondensiert werden. Dieser Verarbeitungsschritt führt zum besseren Erinnern.»
Verkümmert im digitalen Zeitalter bei Kindern die Handschrift?
Immer mehr Buben und Mädchen tippen ihr erstes Wort, statt es mit einem Stift zu schreiben. Nicht ganz unproblematisch. Moritz Daum: «Ich will die digitalen Medien nicht verteufeln. Dennoch kann es dazu führen, dass selbst die Handschrift von Erwachsenen häufig derjenigen eines Schülers gleicht, weil sie sich kaum bis gar nicht entwickelt hat beziehungsweise entwickeln konnte.»
Gemäss einer Umfrage des deutschen Lehrerverbandes bekunden 51 Prozent der Buben und 31 Prozent der Mädchen Mühe damit, von Hand zu schreiben.
Stirbt die Handschrift also bald aus?
Jein. Zwar machen wir alle uns immer wieder handschriftliche Notizen, doch der überwiegende Teil des Schreibens findet inzwischen am Computer statt. Ansichtskarten und Briefe schreiben nur noch die wenigsten – sie wurden abgelöst durch Mail, SMS, Whatsapp, Instagram oder Snapchat.

Selbst wenn der Inhalt derselbe sein mag, so fehlt den digitalen Nachrichten gegenüber den handschriftlichen doch Wesentliches. Entwicklungspsychologe Daum: «Egal, wie stark man auf die Tastatur hämmert oder wie sanft man sie streichelt – das Geschriebene sieht auf dem Bildschirm stets gleich aus. Deshalb enthält die Handschrift immer mehr Informationen als die digitale Schrift.»
Und Grafologin Iris Meier ergänzt: «Ein handgeschriebener Brief hat einen persönlicheren Stellenwert als ein rasch beantwortetes E-Mail. Er ist Ausdruck von Zuwendung, Achtung, aber auch des persönlichen Stempels, den man damit hinterlässt.»
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