Umstrittener zweiter LockdownVon fast 10’000 auf unter 1000 Infektionen – Was die Schweiz von Israel lernen kann
Israel verhängte als erstes Land einen zweiten Lockdown. Vorerst mit Erfolg – die Massnahmen werden bereits wieder gelockert. Wie die Schweiz von den Erkenntnissen profitieren könnte.

Als erstes Land der Welt hatte Israel Mitte September einen zweiten landesweiten Lockdown verhängt. Ende September hatte die Zahl der Ansteckungen mit mehr als 9000 ihren bisherigen Höchststand erreicht. Nun die Kehrtwende: Am Freitag meldete das israelische Gesundheitsministerium 895 neue Fälle. Am Samstag waren es 692 Neuinfektionen (am Sonntag wurden wegen eines technischen Defekts keine Fälle gemeldet). Doch die Zahlen sinken offenbar weiter. Deshalb werden im Land mit rund neun Millionen Einwohnern die Anti-Corona-Massnahmen seit einer Woche wieder gelockert. So können beispielsweise Strände wieder besucht werden, und ab 1. November sollen Erst- und Zweitklässler wieder für einige Stunden in den Schulgebäuden unterrichtet werden. Die Auflage, dass Bürger sich nicht weiter als einen Kilometer von ihrem Zuhause entfernen dürfen, wurde aufgehoben.

In Europa und insbesondere der Schweiz sieht das Szenario umgekehrt aus: Übers Wochenende gab es hierzulande wieder 17’440 Neuinfektionen bei einer Positivitätsrate von 21,3 Prozent (hier gehts zum Corona-Ticker für die Schweiz) – der Bundesrat entscheidet kommenden Mittwoch über einen zweiten Schweizer Lockdown. Können wir aus Israels Vorgehen Lehren für die Schweiz ableiten? Eran Segal, einer der führenden Covid-19-Statistiker und Forscher am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rechovot, hat seine Erkenntnisse und Einschätzungen in einer Art Leitfaden auf Twitter veröffentlicht. Folgende Erkenntnisse könnten der Schweiz dienlich sein bei der Bekämpfung der Pandemie:
Erstaunlicherweise sei der zweite Lockdown kürzer, aber effektiver gewesen, und das, obwohl er weniger streng war als der erste. Bereits 10 Tage nach der Verhängung des Lockdown seien die Fallzahlen wieder gesunken, das sei doppelt so schnell wie beim ersten gewesen. Ausserdem waren im Unterschied zum ersten Lockdown in Israel Tätigkeiten, bei denen es nicht zu engem Kontakt mit anderen Personen kommt, weiterhin erlaubt. Dies deute daraufhin, dass diese Bereiche eventuell gar kein Bestandteil eines Lockdown sein müssen. Auch der R-Wert, die durchschnittliche Ansteckungsrate einer Person, sei stärker gefallen als bei der ersten Welle. Über die Gründe dafür kann Segal jedoch nur mutmassen. Die Maskentragpflicht habe sicher dazu beigetragen sowie die Veranstaltungsverbote und Schulschliessungen. Bereits in der Vergangenheit riet Segal dazu, Schulen nicht offen zu halten, wenn die Fallzahlen stark ansteigen und die Infektionsrate hoch ist. Schulöffnungen würden die Pandemie nur noch mehr verstärken. Der Schulbetrieb sei ohnehin ineffektiv, wenn viele Kinder und Lehrer in Quarantäne müssten.
Schulen gelten bislang in anderen Ländern nicht als Treiber der Pandemie. Dieser Aspekt ist allerdings auch noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht worden. Jedenfalls hat die «Ciao Corona»-Studie der Universität Zürich keine Hinweise gefunden, dass Kinder das Coronavirus stark weiterverbreiten.
Unterschiedliche Gruppen, unterschiedliche Massnahmen
Weiter verweist Segal auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Israeli, Orthodoxe, Araber) für die unterschiedliche Massnahmen gegolten hätten. Dies habe sich im Nachhinein als sinnvoll erwiesen, da es sehr unwahrscheinlich sei, dass sich das Virus überall im Land gleich verhalte. Gerade in strengreligiösen Wohnvierteln hatte es besonders hohe Corona-Infektionszahlen gegeben. Dort leben häufig grosse Familien in beengten Verhältnissen zusammen.
Kapazitäten im Gesundheitswesen als trügerische Richtwerte
Der Epidemiologe warnt aber auch vor den Fehlern, die Israel bei der Bekämpfung der Pandemie gemacht hat. Als grössten Irrtum, aus dem viele Folgefehler entstanden seien, nennt Segal die Festlegung eines Grenzwerts in den Spitälern. «Definieren Sie eine maximale Belegungskapazität, und Sie werden diese auf jeden Fall erreichen – mit hohen Fallzahlen und einer hohen Mortalität», schreibt er auf Twitter. Die Kapazitäten eines Gesundheitssystems seien viel schneller erreicht, als man gemeinhin annehme. Tiefe Todeszahlen oder leere Intensivstationen seien oft trügerische Momentaufnahmen.
Wie rasch das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommen kann, ist derzeit gut in Schwyz sowie in den Kantonen Wallis und Waadt zu sehen, wo Spitäler und Experten vor Überlastungen warnen.
Im Kanton Genf benötigt das Universitätsspital (HUG) aufgrund rasch gestiegener Klinikeinweisungen wegen der zweiten Welle der Pandemie dringend zusätzliches Personal. Das Spital hat am Sonntag einen entsprechenden Aufruf an ehemalige Mitarbeiter im Ruhestand sowie solche in unbezahltem Urlaub gerichtet. Die Klinikleitung sucht demnach sofort nach Freiwilligen für medizinische, pflegerische oder administrative Aufgaben, wie die Klinik mitteilte. Die Ärzte und zusätzlichen Pflegeleute etwa für die Intensivstationen sollen die bestehenden Teams im Spital verstärken und entlasten.
Die Virologin Isabella Eckerle von der Universität Genf fordert angesichts der aktuellen Lage in der Schweiz einen sofortigen Lockdown. Es gebe keinen anderen Weg. Weiter warnt Eckerle: «Wenn die Politik jetzt nicht sofort reagiert, werden wir nicht durch diesen Winter kommen ohne eine grosse Zahl an Todesopfern und einen immensen wirtschaftlichen Schaden.»
Im Kanton Schwyz hat die Regierung mittlerweile die Massnahmen verschärft. Private Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen und übrige Veranstaltungen mit mehr als 30 Personen sind ab heute Montag verboten. Am Arbeitsplatz gelte neu in Innenräumen eine Maskentragpflicht, teilte der Kanton am Sonntagnachmittag weiter mit.
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Erfolgsmodell mit Vorbehalten
War der zweite Lockdown in Israel ein Erfolg? Obwohl die Zahl der Neuinfektionen in den Keller ging, bleiben Experten skeptisch. Die Ausgangssperre habe den Blutfluss zwar gestoppt, aber die Ursache der Blutung nicht behoben, zitiert die «Berliner Morgenpost» den Epidemiologen Ran Balicer. Israel kämpfe nach wie vor mit denselben Problemen wie zuvor. Würden die nicht gelöst, dann drohe bald der dritte Lockdown. Das grösste Hindernis sei, dass viele Israelis ihrer Regierung nicht mehr zutrauen, die Krise weiter in den Griff zu bekommen. Zumal die Lockdowns der Wirtschaft stark zugesetzt haben: Laut Schätzungen werden in diesem Jahr mehr als 80’000 Betriebe aufgeben. Die Arbeitslosenquote liegt bereits wieder über 20 Prozent.
«Was wir jetzt vorbereiten, wird sehr wahrscheinlich für ziemlich lange dauern müssen.»
Obwohl sich in der Schweiz die bestätigten Corona-Fälle am Wochenende gegenüber der Vorwoche erneut verdoppelt haben, will der Bundesrat neue nationale Massnahmen voraussichtlich erst am Mittwoch bekannt geben. «Panik und Aufregung» brächten jetzt wenig, sagte Gesundheitsminister Alain Berset am Montag in Lausanne.
Denn «was wir jetzt vorbereiten, wird für sehr wahrscheinlich ziemlich lange dauern müssen.» Die Lage sei ernst, und sie verschlimmere sich täglich». Es brauche deshalb eine «starke Reaktion», sagte Berset. Und: «Wir müssen es besser machen als im März», als ganze Wirtschaftsbereiche geschlossen werden mussten.
Pascal Steiner ist Newsredaktor und Online-Produzent. Seit 2015 arbeitet er für die TX Group. Er lebt in Basel und ist Vater von zwei Kindern.
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