Vom Amtshaus ins Auktionshaus
Tausende Werke sind aus den Kunstsammlungen von Bund, Kantonen und Städten verschwunden. Die SonntagsZeitung fand drei Objekte, die Private zu Geld gemacht haben.
Den Titel «Grösste Kunstsammlerin der Schweiz» trägt weder eine erfolgreiche Unternehmerfamilie noch eine reiche Erbin, sondern: die öffentliche Hand. Und damit indirekt die Bevölkerung. Weit über 100'000 Werke gehören landesweit den Kunstsammlungen von Bund, Kantonen und Städten. Sie lagern in Archiven oder schmücken Büros, Empfangs- und Sitzungszimmern. Bloss: Mehrere Tausend dieser Werke sind nicht mehr da, wo sie eigentlich sein sollten. Sie sind verschwunden, oft auf Nimmerwiedersehen.
Allein die Sammlung des Bundes, mit über 20'000 Werken eine der grössten, führt rund 450 Objekte als vermisst. Die SonntagsZeitung erhielt erstmals Einblick in die entsprechende Liste. Darauf befinden sich von einfachen Lithografien über Gemälde bis hin zu Skulpturen und Vasen alle erdenklichen Objekte von Schweizer Künstlern. Was ist mit all den verschollenen Stücken, meist finanziert aus Steuergeld, geschehen?
Von vielen Werken fehlt jede Spur. Einige wurden gestohlen, viele verschlampt. «Unachtsamkeit ist der häufigste Grund für ein Verschwinden», sagt Andreas Münch, Leiter der Bundeskunstsammlung. Zwar passiert es manchmal, dass sie durch Zufall in einer Abstellkammer oder hinter einem Schrank wieder auftauchen. Darauf zählen kann man aber nicht.
Gemälde für 3500 Franken versteigert
Die Suche führt ins Internet. Dort gibt es Datenbanken, die über abgeschlossene Kunsthändel informieren. Und tatsächlich: Ein Werk von der Vermissten-Liste soll vor über 20 Jahren im renommierten Berner Auktionshaus Dobiaschovsky unter den Hammer gekommen sein. Ein Anruf bestätigt: Alexandre Rochats Gemälde «Place Neuve à Genève» befindet sich in einem alten Auktionskatalog – und wurde am 4. Mai 1994 für 3500 Franken verkauft.
Aus Diskretionsgründen gibt das Auktionshaus weder Käufer- noch Verkäuferpartei bekannt. Geschäftsinhaber Marius J. Heer verrät nur so viel: Das Gemälde sei von einer privaten Person eingeliefert und auch von einer privaten Person erstanden worden. Letztere zu finden dürfte allerdings schwierig werden. Denn die beim Auktionshaus hinterlegte Adresse ist laut Heer schon 2008 erloschen. Es sei die Anschrift eines Altersheims gewesen.
«Unachtsamkeit ist der häufigste Grund für ein Verschwinden.»
Und wer hat das Bild verkauft? Einen Hinweis darauf findet sich in der Datenbank der Bundeskunstsammlung. Ein Mitarbeiter hat dort vor langer Zeit notiert: «Das Bild war bei Hrn. U.*, Thunstrasse 20, Büro 32 deponiert. Wahrscheinlich hat er es nach seiner Pensionierung mitgenommen. Nachforschungen blieben ergebnislos.»
Wir geben aber nicht auf und finden heraus: Herr U. war lange Zeit Chefbeamter im Innendepartement, Abteilung Kultur – ausgerechnet in der Bundesstelle also, die für die Kunstsammlung zuständig ist. Und er starb 1988.
Herr U. hatte eine Tochter. Ja, sie könne sich vage an ein Gemälde von Alexandre Rochat erinnern, sagt sie am Telefon. Gut möglich, dass es mal im umfangreichen Kunstbestand der Familie gewesen sei. Die Tochter glaubt, dass ihre Mutter das Bild ins Auktionshaus gegeben haben könnte, wenige Monate vor ihrem eigenen Tod im September 1994. Wer das Gemälde gekauft hat, sei ihr aber gänzlich unbekannt.
Ricardo-Händler wollte entwendetes Bild verkaufen
So muss die Frage offen bleiben, wo das Ölgemälde des Genfer Künstlers heute steckt. Klar ist: Dass ein entwendetes Werk aus einer öffentlichen Kunstsammlung zu Geld gemacht wird, ist kein Einzelfall.
Auf der Online-Auktionsplattform Ricardo versuchte letzten Mai eine anonyme Person ein Gemälde des Zürcher Malers Emil Weber zu verkaufen. Dem Angebot war ein Foto der Rückseite des Gemäldes beigefügt. Und da steht auf einer grossen Etikette: «Hochbauinspektorat der Stadt Zürich». Die Etikette enthält zudem die Information, dass das Gemälde 1920 ursprünglich im Amtshaus I, Zimmer 117, bei Stadtrat Dr. Häberlin platziert worden war.
In der Tat ist das Bild «Ufenau mit Lützelau» von Emil Weber auf der Vermissten-Liste der Stadtzürcher Kunstsammlung, welche die Verwaltung auf Anfrage ebenfalls erstmals herausgab. Zusammen mit 952 anderen Werken ist sie mutmasslich die längste solche Liste in der Schweiz. Und sie wäre noch viel länger, hätte die Stadt nicht schon knapp 4000 Werke mit Status «unbekannt» ausgeschieden – alles hoffnungslose Fälle.
«Wir dokumentieren das lokale Kunstschaffen. Da können auch materiell unbedeutende Verluste eine Lücke hinterlassen.»
Mit Google und etwas Geduld lässt sich die Identität des Ricardo-Verkäufers herausfinden: Es ist ein pensionierter Antiquitätenhändler aus der Region Zürich. Am Telefon erklärt er, dass er keinen Abnehmer für den Weber gefunden habe und das Gemälde deshalb noch bei ihm im Lager stehe. Wie es in seinen Besitz kam, wisse er nicht mehr genau. Möglicherweise habe er es auf einem Flohmarkt erstanden.
Bei der Stadt Zürich ist man hocherfreut über die Kunde, dass ein verschollenes Werk wieder aufgetaucht ist. Auch wenn das Gemälde nicht besonders wertvoll sei, werde die Stadt nun alles daran setzen, es zurückzubekommen, sagt Matthias Wyssmann, Sprecher im für die Kunstsammlung zuständigen Hochbaudepartement. «Wir dokumentieren das lokale Kunstschaffen. Da können auch materiell unbedeutende Verluste eine Lücke hinterlassen», sagt Wyssmann.
Aus finanzieller Sicht deutlich grösser ist ein weiterer Verlust: Die Bronzeskulptur eines Tukan-Vogels des Bildhauers und Plastikers Arnold Huggler, die sich ursprünglich ebenfalls in einem Zürcher Amtshaus befand. Auch sie tauchte auf dem freien Kunstmarkt auf. Die Statue wechselte im November 1997 im Zürcher Auktionshaus Germann für 3900 Franken den Besitzer. Auf der Abbildung im Auktionskatalog sind im Sockel der Statue sogar noch die zwei kleinen Löchlein zu erkennen, welche eine Plakette hinterlassen hat, die jemand vor dem Verkauf entfernt haben muss. Darauf stand in Grossbuchstaben: «Eigentum der Stadt Zürich».
Öffentliche Hand hält Liste geheim
Die SonntagsZeitung hat bei etlichen weiteren Städten und Kantonen nach Listen der verschwundenen Kunstwerke gefragt, jedoch vergeblich. Die meisten Behörden wollen nicht offenlegen, welche Objekte ihnen abhandengekommen sind. Für den renommierten Kunstrechtsexperten Andrea Raschèr ist dies höchst fragwürdig: «Die Behörden müssen Transparenz schaffen, ansonsten entsteht der Eindruck, dass sie unliebsame Überraschungen verstecken wollen», sagt er. Die nun aufgedeckten Fälle und die grosse Zahl verschwundener Werke zeugten davon, wie sorglos die öffentlichen Sammlungen teilweise geführt worden seien oder immer noch geführt würden.
Sowohl beim Bund wie bei der Stadt Zürich betonen die Verantwortlichen, zuletzt viel dafür getan zu haben, um neue Verluste zu verhindern. «Die Situation lässt sich nicht mit der vor zehn oder zwanzig Jahren vergleichen», sagt Andreas Münch von der Sammlung des Bundes. Früher sei es vorgekommen, dass Objekte ohne Vertrag oder weitere Dokumentation an Leihnehmer übergeben worden seien. Heute sei die Kontrolle viel enger und auch die Leihnehmer seien sich ihrer Verantwortung besser bewusst, sagt Münch. Dennoch wurden ihm auch in den letzten beiden Jahren rund zehn Werke neu als vermisst gemeldet.
Aufgeschreckt worden waren die öffentlichen Kunstsammlungen vor zehn Jahren von einem spektakulären Fall in Zürich. Aus dem Triemli-Spital verschwand ein auf 1,5 Millionen Franken geschätztes Gemälde von Le Corbusier, das der Stadt gehört hatte. Von ihm fehlt bis heute jede Spur.
Einen rechtlichen Anspruch auf die Rückgabe der drei aufgespürten Werke haben der Bund und Zürich übrigens nicht. Wenn jemand ein Werk in gutem Glauben erstanden hat, dann gilt es nach einer gewissen Zeit als «ersessen».
Ein kleines Happy End gibt es trotz allem: Der Ricardo-Händler mit dem Bild von Emil Weber ist bereit, es der Stadt Zürich zurückzuverkaufen. «Zum Selbstkostenpreis, höchstens 150 Franken.» (Mitarbeit: Lena Würgler)
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