Treibkraft CoronaÜber allen schwebt der Jungspund
Mit dem Diamond-League-Meeting von Doha endet am Freitag die Saison der Leichtathleten. 5 Erkenntnisse eines aussergewöhnlichen Sommers.

Das Virus bremst die Weltklasse
Topathleten sind sensible Zeitgenossen. Wenn nur schon der kleinste Muskel zwickt, verzichten die meisten auf einen Wettkampf. In dieser Saison kam mit dem Coronavirus ein weiterer Bremser hinzu. Die Folge: Das Niveau war in diesem Sommer in vielen Disziplinen so bescheiden wie seit 20 Jahren nicht mehr. Beispiel 1: Gerade einmal vier Athleten sprinteten die 100 Meter unter 10,0 Sekunden – in guten Jahren sind es bis zu 20. Beispiel 2: Sieben Läuferinnen knackten über 800 Meter die 2 Minuten – in normalen Sommern sind es auch einmal 30.
Viele der besten Schweizer trotzen dem Virus

Weitaus resistenter offenbarten sich die besten Schweizer. Mit Ajla Del Ponte stürmte gar eine hiesige Athletin in die Weltspitze. Mit ihren 11,08 Sekunden ist die 24-Jährige gar die Weltnummer 5 über 100 m. Del Ponte profitierte also vom bescheidenen Niveau in diesem Sommer. Denn noch nie war eine Schweizer Sprinterin zum Saisonende in dieser Prestigeliste besser klassiert.
In ihrem Windschatten trotzte eine Reihe an Schweizern dem Virus, allen voran der Bündner William Reais. Mit seinen 20,24 Sekunden über 200 m ist er wie Del Ponte gar die Nummer 1 in Europa. Dieses Doppelpack ist ein Schweizer Novum, das durch zahlreiche andere Beispiele erweitert werden könnte. Das prominenteste heisst Jason Joseph. Der 110-m-Hürden-Sprinter, noch immer erst 22 Jahre jung, drückte seinen Schweizer Rekord auf 13,29 Sekunden. Kann der Basler seine rasanten Fortschritte fortführen, zählt er wie der sogar erst 20-jährige Zehnkämpfer Simon Ehammer bald zu den Weltbesten.
Ewig scheint das Russen-Problem
Seit mehreren Jahren schon versucht der Weltverband sein widerspenstigstes Mitglied zu bändigen. Russland aber, das nach breitem Dopingvergehen von einer Sonderkommission des Verbands eng begleitet wird, entzieht sich Mal um Mal. Am 30. Juli entschied sich World Athletics für den Hammer: den Ausschluss der Russen aus dem Verband, sollten sie nicht eines der festgelegten Kriterien (eine Zahlung von 5 Millionen Dollar) umgehend erfüllen. Im letzten Moment half das russische Sportministerium mit einem Kredit aus.
Trotzdem ist klar: Der stete Ärger wird anhalten, weil sich die Denkweise der Russen kaum verändert habe, wie Rune Andersen sagt. Er leitet die erwähnte Sonderkommission von World Athletics. Damit wird immer deutlicher: Sollten im kommenden Jahr tatsächlich Olympische Spiele stattfinden, werden entweder keine oder fast keine russischen Leichtathleten teilnehmen dürfen.
Wer ist eine Frau?

Das weitreichendste Urteil über die Leichtathletik hinaus fällte der Internationale Sportgerichtshof im September. Er entschied, dass World Athletics festlegen darf, wer in der Kategorie Frau starten kann. Die über Jahre hitzig geführte Debatte entzündete sich an der südafrikanischen 800-m-Läuferin Caster Semenya, der Olympiasiegerin von 2012 und 2016. Die intersexuelle Semenya verkörpert ein drittes Geschlecht.
Nur existieren im Sport nun einmal bloss zwei: Mann und Frau. Weil Athletinnen wie Semenya in der Kategorie Frau über einen Wettbewerbsvorteil verfügen, da ihr Körper mehr «männliche» Hormone produziert, definierte World Athletics einen Testosteron-Grenzwert. Wer ihn übertraf, musste sich medikamentös behandeln lassen, um in der Kategorie Frau dabei sein zu können.
Dagegen rekurrierte Semenya – World Athletics musste die Regel suspendieren. Der Sportgerichtshof entschied nun pro Verband, weil die Fairness das grundlegendste Prinzip in dieser Causa sei. Wer künftig als sogenannt intersexuelle Frau in der Kategorie Frau starten will, muss bei einer Grenzwertüberschreitung medikamentös korrigieren.
Semenya will das nicht, ihre Karriere als Weltklasseläuferin ist damit beendet. Als sie in der Phase, als die Regel schon einmal galt, ein entsprechendes Mittel einnehmen musste, war sie im Vergleich mit anderen Topläuferinnen chancenlos.
Das rätselhafte Genie

Wer den feingliedrigen Jüngling in seiner John-Lennon-Brille und Hoodie auf der Strasse träfe, würde niemals glauben, einen Leichtathleten der Sonderklasse vor sich zu haben. Das sportliche Genie des amerikanischen Schweden Armand Duplantis ist also gut versteckt. Sobald er sich mit seinem Stab aber in die Höhe katapultiert, entschwebt er den Konkurrenten.
Wie er das anstellt, weiss keiner so genau. Darum rätselt die Szene auch nach seinen vielen Supersprüngen in diesem Sommer, was den Götterknaben so speziell macht. 6,18 m sprang der erst 20-Jährige schon im Februar in der Halle, vor einer Woche liess er mit 6,15 m in Rom auch im Freien den höchsten erfolgreichen Sprung je folgen.
Angesichts seiner stupenden Leichtigkeit verblassten die Leistungen des zweiten Dauersiegers fast ein wenig: Der Norweger Karsten Warholm bretterte über 400 m Hürden so viele hervorragende Zeiten auf der Bahn, dass selbst der Weltrekord vom fernen 1992 knackbar scheint – was lange als absolut unmöglich galt und zeigt: Topleistungen waren in diesem aussergewöhnlichen Sommer sehr wohl möglich, Covid-19 aber lieferte vielen Weltklasseathleten das ideale Argument, den Körper einmal herunterzufahren, ehe in einem wohl etwas normaleren 2021 das Powern weitergehen wird.
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