Türkische Gewerkschaft ruft zu Streik auf
Nach dem Grubenunglück mit über 280 Toten entlädt sich in der Türkei der Zorn der Bevölkerung. Mit einer Ansprache goss Ministerpräsident Erdogan zusätzliches Öl ins Feuer.
Nach dem verheerenden Grubenunglück in der Türkei richten sich Trauer und Wut zunehmend gegen die Regierung. In Ankara demonstrierten am Mittwochabend mehrere Tausend Menschen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Menge vor. Am Donnerstag gingen die Proteste in der westtürkischen Stadt Izmir weiter. Die Polizei ging mit Tränengas gegen rund 20'000 Demonstranten vor.
Aus Protest gegen die Privatisierungspolitik der Regierung hat die grösste Gewerkschaft der Türkei nach dem Grubenunglück zum Streik aufgerufen. Für heute Donnerstag wurden alle 240'000 Mitglieder der Gewerkschaft Kesk für die Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst aufgerufen, ihre Arbeit niederzulegen, wie die Gewerkschaft auf ihrer Website mitteilte.
«Diejenigen, die Privatisierungen vorantreiben und zur Kostenreduzierung die Leben von Arbeitern aufs Spiel setzen, sind die Schuldigen des Massakers von Soma und müssen zur Rechenschaft gezogen werden», erklärte die Kesk.
Zwei Tage nach dem Unglück reiste nach Erdogan auch der Präsident Abdullah Gül vor Ort. Erst besuchte er Überlebende im Krankenhaus, danach machte er sich am Bergwerk ein Bild der Lage.
282 Tote
Bei dem Grubenunglück in Soma im Westen des Landes wurden mindestens 282 Menschen getötet. Damit ist das Unglück die schwerste Katastrophe in einem Bergwerk in der Geschichte der Türkei. Es ist zugleich das schwerste Grubenunglück weltweit seit 1975. Dutzende Kumpel werden noch vermisst, die Rettungschancen sinken mit jeder Stunde.
Erdogan reiste am Mittwoch an den Unglücksort und kündigte umfassende Ermittlungen an. Er versprach, «keine Nachlässigkeit» zu dulden. Dutzende aufgebrachte Einwohner von Soma demonstrierten nahe dem Gebäude, in dem der Regierungschef seine Pressekonferenz hielt. Sie versetzten seinem Auto Fusstritte und forderten den Rücktritt der Regierung, wie die private Nachrichtenagentur Dogan berichtete.
Erdogan bezeichnet Unglück als «gewöhnliche Sache»
Zuvor spielte Erdogan das Unglück herunter, indem er es in eine Reihe mit ähnlichen Vorkommnissen stellte. «Derlei Arbeitsunfälle passieren überall auf der Welt», sagte Erdogan. Er bezeichnete das Grubenunglück in der Türkei als «gewöhnliche Sache». «Da ist etwas in der Literatur, was man ‹Arbeitsunfall› nennt», sagte der Ministerpräsident. Nach der Ansprache des Ministerpräsidenten entlud sich der Ärger auf den Strassen erst recht.
Die Katastrophe von Soma ist das schwerste Grubenunglück in der Geschichte des Landes. Beim bisher schwersten Unglück in der Türkei waren 1992 in einem Bergwerk in Zonguldak nach einer Gasexplosion 263 Kumpel gestorben.
Tödliches Kohlenmonoxid
Im Bergwerk war nach der Explosion eines Transformators am Dienstag ein Feuer ausgebrochen, das am Mittwoch weiter wütete. Tödliches Kohlenmonoxid behinderte die Rettungsarbeiten.
Den Sicherheitskräften zufolge bildeten sich nach der Explosion in dem Bergwerk zwei Lufttaschen, von denen eine für die Rettungskräfte zugänglich, die zweite jedoch versperrt war. Die meisten der Todesopfer starben an einer Kohlenmonoxidvergiftung.
Hunderte verzweifelte Angehörige und Kollegen warteten den ganzen Mittwoch vor dem Grubeneingang auf Neuigkeiten. Nur vereinzelt wurden Überlebende ans Tageslicht gebracht, sie husteten und rangen nach Luft.
Die Feuerwehr versuchte, Frischluft in den Schacht zu leiten, um die in zwei Kilometern Tiefe festsitzenden Arbeiter zu versorgen. Nach Angaben des Minenbetreibers konnten bis Mittwochabend fast 450 Kumpel gerettet werden. Rund 80 von ihnen wurden bei dem Brand in dem Kohlebergwerk verletzt.
Streit um angebliche Sicherheitsmängel
Unterdessen tobte landesweit die Debatte über die Sicherheit in dem Bergwerk. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.
Die Staatsanwaltschaft nahm am Mittwoch Ermittlungen auf, der linke Gewerkschaftsbund Disk sprach von einem «Massaker». Erst vor wenigen Wochen war die Oppositionspartei CHP im Parlament mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen.
Kein Unfall, sondern Mord
In Ankara setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen mehrere Tausend Demonstranten ein, die angestachelt durch das Unglück gegen die Regierung protestierten. Sie warfen Steine auf die Beamten und riefen regierungsfeindliche Parolen.
Auch in Istanbul löste die Polizei Protestkundgebungen auf. Demonstranten hielten dort Plakate in die Höhe, auf denen in Anspielung auf die zahlreichen Toten stand: «Kein Unfall – Mord».
Das türkische Arbeitsministerium erklärte, die Grube sei zuletzt am 17. März auf Sicherheitsmängel untersucht worden und es habe keine Beanstandungen gegeben. Die türkische Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus.
AFP/sda/mrs/chk
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