Obdachlose in der kalten JahreszeitTrotz Minus-Temperaturen schlafen sie draussen
In der Stadt Bern leben rund 30 Menschen ohne Dach über dem Kopf. Wird es ganz eisig, übernachten sie auch mal in öffentlichen Toiletten.

Über die Fussgängerrampe eilen Passantinnen und Passanten. Vom Büro geht es für viele schnurstracks nach Hause in die warme Stube – es ist Feierabend. Was sie nicht wissen: Unter dem Weg gibt es noch eine ganz andere Welt. Eine, die im krassen Kontrast zum Alltag der meisten Bernerinnen und Berner steht.
Unter der Rampe wohnen Menschen, manchmal einzeln, manchmal in Gruppen. Schlafsack statt Sofa, Kartonwände statt dicke Mauern, Laubteppich statt Perserteppich. Vor kurzem haben die letzten Bewohner das Lager geräumt. Zurück blieb lediglich eine blau-weisse Blache, die zusammengeknüllt auf dem Boden liegt. Über dem niedrigen Raum bildet der Gehsteig das Dach, der geteerte Boden ist kalt und feucht, luxuriös ist einzig der Ausblick – nichts als Bäume und Himmel.
Hier übernachten regelmässig Obdachlose, weiss Silvio Flückiger. Er ist Leiter von Pinto, der mobilen Sozialarbeit. Rote Weste und Dächlikappe bilden seine Arbeitskleidung, hinter seinem Ohr klemmt eine selbst gedrehte Zigarette. Seit 17 Jahren ist Flückiger bei Pinto. Die städtische Interventionsgruppe ist auf den Gassen unterwegs, soll Nutzungskonflikten im öffentlichen Raum vorbeugen.
Unter der Rampe seien die Obdachlosen einigermassen vor Wind und Wetter geschützt, sagt Flückiger. Und versteckt vor den Leuten – so nennen auch wir die genaue Lage der Schlafstätte nicht.

Wie ist das, in einem Land mit kalten Jahreszeiten bei jedem Wetter draussen zu sein? Das wollen wir an diesem Herbstabend unterwegs mit Pinto herausfinden.
«Jetzt kommt für die Obdachlosen eine besonders prekäre Zeit», sagt Flückiger. Wenn die Temperaturen noch knapp über der Nullgradgrenze liegen, wenn es noch nicht eisig kalt ist, sind Flückiger und sein Team gefordert. Denn nun würden auch jene noch draussen übernachten, die es nicht gewohnt seien, im Winter unter freiem Himmel zu schlafen. Jene, die nicht richtig ausgerüstet seien. «Unterkühlen kann man sich bereits über der Nullgradgrenze.» Die Leute von Pinto suchen mit den Menschen das Gespräch, informieren sie über die Angebote der Notschlafstellen in Bern und laden sie ins Büro von Pinto ein.
An der Schwarztorstrasse, unweit des Berner Bahnhofs, können die Leute eine Dusche nehmen, ihre Wertsachen in Schliessfächern deponieren, sich mit warmen Kleidern eindecken. Und ihre durchnässten Sachen waschen und trocknen. Viele hätten nicht die besten Zelte, würden sich zusätzlich mit Blachen schützen. Doch auch die lassen irgendwann durch. «Wenn es regnet, sieht es hier manchmal aus wie in einer Wäscherei.»
32 Obdachlose sind Pinto in Bern aktuell bekannt. Menschen also, die keinen festen Wohnsitz und auch sonst keine Bleibe haben – etwa bei Kollegen oder in einer Notschlafstelle. Im Sommer seien es jeweils etwas mehr, so Flückiger. Weil dann Menschen aus allen Ländern in die Schweiz kommen und hier einen Saisonjob auf einer Baustelle oder in der Landwirtschaft suchen. Im Herbst reisen viele weiter.
Händetrockner als Heizung
Jene, die bleiben, übernachten aber vielfach in der kälteren Jahreszeit ebenfalls draussen. Unter Brücken, unter den Lauben, in Hauseingängen. Wenn es besonders kalt ist, schlafen manche in öffentlichen Toiletten. Um sich warm zu halten, würden sie immer wieder den Händetrockner anstellen. Auch der Lift im Bahnhof sei beliebt. Mit dem Risiko, dass sie vertrieben werden. Flückiger und sein Team hingegen scheuchen niemanden weg. Hätten sich die Obdachlosen in ihre Schlafstätten zurückgezogen, würden sie sie in Ruhe lassen. «Wir möchten ja auch nicht, dass jemand mitten in der Nacht in unser Schlafzimmer trampt.»
Nur wenn Not herrscht, wenn jemand beispielsweise krank ist, werden die Obdachlosen aufgesucht. Auch in ganz kalten Nächten haben die Pinto-Mitarbeitenden ein wachsameres Auge auf die Leute draussen. Flückiger erinnert sich an eine fast schon «sibirische Kälte» vor einigen Jahren. Gegen minus 15 Grad sei es in manchen Nächten gewesen. Da hätten immer noch sieben bis acht Leute draussen geschlafen. «Damals waren wir die ganze Nacht zu Fuss und mit dem Auto unterwegs und hatten heissen Tee und Reserveschlafsäcke dabei.»
Wegen einer Unterkühlung gestorben sei in all den Jahren aber zum Glück niemand, sagt Flückiger. Einmal hätten sie einen schlafenden Mann unter einem Pontonierboot an der Aare gefunden. «Er war schon blau angelaufen.» Der Mann habe wohl Drogen konsumiert. «Und dann hat der Körper den Moment verpasst, ihn aufzuwecken.» Die Sanität sei gerade noch rechtzeitig gekommen.
Die Ambulanz müssen Flückiger und sein Team aber nur selten rufen. Die Leute seien abgehärtet, seien die Kälte gewohnt, so der Sozialarbeiter. Müssten sie drinnen übernachten, würden manche die Heizung ausschalten und die Fenster aufreissen. Die Obdachlosen seien nicht unbedingt mehr erkältet. «Sie sind weniger unter Leuten, sind weniger der trockenen Heizungsluft ausgesetzt.»
Während im Sommer einige im Wald oder entlang der Aare schlafen, zieht es sie im Winter wieder mehr zu den bewohnten Gebieten. Das kann zu Konflikten führen. Hin und wieder wird Pinto von Privatgrundbesitzern gerufen, die nicht mehr weiterwissen, weil jemand in ihrem Treppenhaus lebt. Es komme aber auch vor, dass Hauseigentümer und Obdachlose eine Koexistenz gefunden hätten.
Flückiger erzählt die Geschichte eines Künstlers, in dessen Garten über mehrere Jahre ein Mann unter einem Zelt aus Blachen hauste. Der Künstler liess ihn gewähren, kümmerte sich, wenn es dem Mann schlecht ging, begleitete ihn auch mal zum Arzt. Die aussergewöhnliche Wohngemeinschaft gäbe es wohl heute noch, wäre der Obdachlose nicht krank geworden. Er wurde erst in einer Klinik, später in einer sozialen Institution untergebracht. Das Team von Pinto räumte dann das Lager: 1,7 Tonnen Material mussten weg. «Der Mann hatte unter den Blachen unzählige Koffer voller Bücher.»
Angst vor Menschen oder Elektrosmog
Doch weshalb leben die Leute überhaupt auf der Strasse? «Menschen, die schon länger draussen sind, ertragen oftmals die Nähe zu anderen Leuten nicht mehr», sagt Flückiger. In den Notschlafstellen müssten sie das Zimmer teilen, müssten sich an einen Tag-Nacht-Rhythmus und gewisse Regeln halten, das sei für manche sehr schwierig. Einige hätten Angst, dass ihre persönlichen Gegenstände gestohlen würden. Andere würden sich vor dem Elektrosmog der Steckdosen fürchten. «Häufig spielt eine psychische Krankheit eine Rolle.» Manchmal auch begleitet von einer Drogenabhängigkeit.
Vielfach sind es Männer, die auf der Strasse leben. In Bern seien lediglich 10 Prozent der Obdachlosen Frauen. «Männer warten länger, bis sie um Hilfe bitten.» Und Frauen würden einfacher bei Bekannten unterkommen.

Durch die Strassen der Altstadt ziehen Silvio Flückiger und seine Kollegin weiter Richtung Bahnhofplatz. Noch ist es hell, noch geniesst eine Gruppe Randständiger die letzten Sonnenstrahlen auf den Bänken bei der Heiliggeistkirche. So auch Yves. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. Der 45-Jährige weiss, wie es ist, im Winter draussen zu schlafen. Zwar lebt er mittlerweile in einer Einzimmerwohnung in der Stadt. Vor einigen Jahren aber hauste er den ganzen Winter an der Kander in einem Zelt. Von November bis April. Es sei kalt und nicht immer angenehm gewesen, ja, sagt der Mann mit dem gepflegten Bart und dem schelmischen Blitzen in den Augen. Aber mit mehreren Schichten sei es aushaltbar gewesen, Zwiebelprinzip halt.
Er habe damals eine ganz schwierige Phase durchgemacht, habe schon acht Alkoholentzüge hinter sich gebracht – vergeblich. «Die fünf Monate dort unten haben mir mehr geholfen als jede Therapie.» Er habe immer etwas zu tun gehabt, habe Feuer gemacht, Fische gefangen. Heute habe er sein Leben irgendwie im Griff. Und wenn es einmal gar nicht gehe, wisse er, «es ist wieder an der Zeit, in die Natur zu gehen».
In der Notschlafstelle zur Ruhe kommen
Silvio Flückiger und seine Kollegin hören den Leuten zu, witzeln, helfen mit Rat. Dann kommt plötzlich Hektik auf. Die beiden Pinto-Mitarbeitenden haben gerade einen Mann gesehen, den sie gesucht haben. Ihm haben sie einen Platz im Passantenheim, der Notschlafstelle der Heilsarmee, organisiert. Ohne Begleitung würde er wohl nicht hingehen, so Flückiger. Doch gehe es dem Mann gesundheitlich nicht gut. «Es ist wichtig für ihn, ein paar Nächte zur Ruhe zu kommen.» Der Mann könne schnell aggressiv werden, «wie ein umgedrehter Handschuh».
Nun aber wirkt er zufrieden. Mit sich trägt er eine bunte Plastiktasche mit seinem Hab und Gut. Angekommen beim Passantenheim, wird er von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen. Flückiger verabschiedet sich: «Schlaf gut.»
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