Tanz mit dem Tod
Der Amerikaner Alex Honnold klettert ungesichert schwierigste Felswände hoch. Eine Doku zeigt ihn auf seiner gewagtesten Mission
Am Morgen, als Alex Honnold lebt oder stirbt, hat er seine Partnerin längst aus dem Yosemite-Nationalpark in Kalifornien geschickt. Sie soll nicht dabei sein, wenn er am El Capitan unternimmt, was noch nie jemand gewagt hat, was selbst Grössen zum Fürchten bringt: diese knapp 1000 Meter steile Felswand ungesichert zu klettern – im Jargon spricht man von «free solo».
Jeder Fehler bedeutet rasch nach dem Einstieg den Tod. Dass den Amerikaner seit Monaten eine Filmcrew begleitet und ihn auch auf dem Kulminationspunkt seines Schaffens aufnimmt, gehört zu seinem Leben als Überflieger. Honnold (33) ist seit seinen ersten ungesicherten Klettereien vor zehn Jahren der Star einer kleinen Gruppe von Ausnahmeathleten, über die man sagt: Es ist nicht die Frage, ob sie bei ihrer Leidenschaft sterben – sondern, wann.
Honnolds Partnerin Sanni McCandless versucht an diesem Morgen, die Angst um ihn bei einer Freundin mit Putzen zu zerstreuen. Sein engster Kletterpartner Tommy Caldwell spielt derweil ebenfalls weit weg vom El Capitan mit seinen zwei Kindern. Trotzdem denkt er immer wieder an Honnold.
Tiefs kann sich Honnold über Stunden keine leisten
Caldwell sagt: «Menschen, die nur ein bisschen etwas vom Klettern verstehen, glauben, Alex sei total sicher. Wer sich aber auskennt, verliert beim Wissen um sein Vorhaben vor Sorge fast den Verstand.»
Diese Szenen sind im Dokumentarfilm «Free Solo» zu sehen, die das (Kletter-)Leben von Alex Honnold abbilden. Die Doku kam am vergangenen Wochenende in den USA in die Kinos. Wann sie in der Schweiz zu sehen sein wird, ist zurzeit noch offen.
Der Zuschauer taucht im Film ein in die Welt eines Mannes, den man ohne Übertreibung als Jahrhundertsportler bezeichnen kann. Denn eines hat er den viel bekannteren Superstars voraus: Während diese sich in ihren Wettkämpfen, sofern diese nicht bloss wenige Sekunden oder Minuten dauern, immer wieder auch einmal ein Tief oder eine Unkonzentriertheit leisten können, muss Alex Honnold bei seinen Kletterstrapazen über Stunden vollkommen präsent sein.
Als 1958 ein US-Team erstmals den El Capitan eroberte, erschloss es sich dafür über 47 Tage einen Zugang, verteilt auf anderthalb Jahre. Für die Route benötigte es schliesslich 12 Tage. Honnold hingegen rauscht in lediglich 3:56 Stunden die Freerider-Route hoch, was schon gesichert einer Weltklasseleistung gleichkommen würde. Er scheint dabei fast die Wand hochzutanzen. Es ist das Resultat einer jahrelangen Vorbereitung. Denn lange traute sich der Mann mit den auffällig grossen Ohren und der tiefen Bassstimme bei allem Können nicht an dieses spektakuläre Solo.

Bei allem Können braucht Honnold auch viel Glück
Schliesslich darf ihm in der Wand eines nie passieren: in Panik zu verfallen oder grössere Angst zu verspüren. Beides würde ihn rasch in den Tod führen. Allerdings attestieren ihm seine Kletterfreunde eine fast schon mirakulöse Kaltblütigkeit; er bleibe noch in den brenzligsten Situationen cool. Er sagt: Nach Tausenden Stunden am Fels habe er sich diese Coolness auch erarbeitet. Trotzdem: Honnold kann bei seinen «free solo»-Zaubereien noch so gut vorbereitet sein. Wenn ein Vogel erschreckt aus einer Spalte schiesst, Steine auf ihn prasseln oder eine feuchte Stelle zur Rutschpartie wird, braucht auch er Glück, damit er überlebt.
Während der Dreharbeiten wollte er die Filmcrew in einer der Schlüsselstellen darum nicht neben sich haben. Sie musste in der Nähe eine Kamera hinterlegen. Der Grund: Honnold misstraute der Stelle und fürchtete, allenfalls dort in den Tod zu stürzen. Er wollte niemanden ganz nahe bei sich haben, sollte das geschehen.
Diese Ambivalenz prägt den Film, und darum entschlossen sich die Macher, das Thema in ihr Werk zu integrieren. Co-Regisseur Jimmy Chin ist selbst ein Topkletterer und begleitet Honnold seit Jahren. Keiner will seinem Freund beim Sterben zusehen – und Chin musste sich auch überlegen, wie stark seine Arbeit Honnold beeinflusste. Denn eines wollte er auf keinen Fall: dass dieser wegen des Films mehr als gewohnt riskiert und darum einen Fehler begeht.
Ein Aussenseiter, der seit vielen Jahren im Van lebt
Man verdirbt keinem die Freude am Film, wenn man verrät, dass Honnold am 3. Juni 2017 schon um 9.28 Uhr auf dem Gipfel stand. Seither wird er in der Szene wie eine Gottheit verehrt. Das ist diesem eloquenten, aber eher scheuen Mann sehr unrecht. Obschon er heute dank seiner Sponsoren gutes Geld verdient – wovon er ein Drittel pro Jahr in seine Stiftung für Solarenergieprojekte in den USA und Afrika fliessen lässt –, pflegt er das Leben eines Aussenseiters.
Bis heute lebt Honnold meist in seinem Van, damit er rasch von einem Kletterort zum anderen kommt. Alles, was er besitzt, hat darin Platz. Seit er Sanni im Herbst 2015 bei einer seiner Buchtouren kennen und lieben lernte, wurde er jedoch ortsgebundener – und muss plötzlich lernen, ein inniges Leben neben dem Klettern zuzulassen.
Als «Soziopathen» hätten ihn seine früheren Freundinnen bezeichnet, sagt der ehrliche Honnold, weil er den Sport stets der Partnerin vorzog – und seine Nächsten mit seinen Abenteuern oft schlaflose Nächte besorgte. Er weiss darum: Seine Lebensfrage lautet, ob er ein guter Mensch und «free solo»-Kletterer sein kann – und damit schlicht am Leben.
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