Als der «Blick» vor sechzig Jahren zum ersten Mal erschien, traf dies die Schweizer Eliten unvorbereitet: Es überwog Ekel und Empörung. Studenten, sozusagen die Junior-Abteilung des Establishments, trugen in Bern einen Sarg durch die Strassen, auf dem «BLICK» stand. Sie wünschten ihm den Tod. In Luzern, so berichtet Karl Lüönd, einer der besten Kenner unserer Pressegeschichte, veranstalteten Kritiker gar einen Fackelzug, um am Ende eine Ausgabe des «Blicks» feierlich zu verbrennen. Dass in der Schweiz unerwünschte Texte öffentlich abgefackelt wurden, dürfte das letzte Mal zu Zeiten der Reformation vorgefallen sein. Man protestierte, man jammerte, es drohte der Untergang des Abendlandes, im Parlament wurde der Bundesrat aufgefordert, sofort einzuschreiten. Das sei ihm leider nicht möglich, bedauerte dieser, weil es eine Pressefreiheit gebe, immerhin betonte die Regierung in ihrer Antwort, wie gefährlich, wie degoutant, wie staatspolitisch bedenklich eine Zeitung sei, die «auf Kosten sachlicher Informationen auf die Weckung und Befriedigung des Sensationsbedürfnisses» abziele, was im Widerspruch zu «hergebrachter, gesunder schweizerischer Pressetradition» stehe.
Auch zwei Jahre nach der Gründung hatte sich der Bundesrat immer noch nicht mit dem «Blick» abgefunden, stattdessen verurteilte er erneut eine «Journalistik», die «auf Sensation und die Weckung von niedrigen Instinkten ausgeht» und «vor Verletzungen der privaten Sphäre nicht zurückschreckt». Um das Schlimmste zu verhüten, untersagte der Bundesrat seinen Beamten, den ungeliebten «Blick»–Reportern Auskünfte zu erteilen.
Einige Jahrzehnte später liessen sich Bundesräte persönlich von «Blick»–Journalisten zu Hause anrufen und nahmen das Telefon ab – inzwischen war der «Blick» zur grössten, vielleicht auch mächtigsten Zeitung des Landes aufgestiegen. Nichts kann Triumph und Elend dieses Blattes besser beschreiben. Denn aus einer Zeitung, die das Establishment einst in Rage brachte und den einfachen Leuten Neuigkeiten und Standpunkte bot, die sie sonst nirgendwo lasen, ist ein Blatt geworden, das sich viel zu oft daran berauscht, Zugang zu Bundesräten, Bundeskanzlern und anderen mächtigen Männern und Frauen zu besitzen, während das, was die einfachen Leute bewegt und verängstigt, nur selektiv behandelt wird – solange es den politisch korrekten Positionen der Zeitung und deren Herausgeber, dem Ringier-Verlag, zupasskommt.
Wer den Mächtigen auf die Finger klopft, wird zuerst für inkompetent erklärt, dann, wenn die Fakten trotzdem stimmen, vielleicht gefürchtet, nie aber geliebt.
Wenn der «Blick» heute sein Jubiläum seitenweise feiert und mit Stolz und zu Recht diese alten Heldengeschichten erzählt, von mutigen, originellen, vorlauten Journalisten, die man wie Strassenköter wegzuscheuchen suchte, weil sie den Salon beschmutzten oder der falschen Dame auf den Schoss sassen, dann kommt Wehmut auf. Warum hat der «Blick», der Strassenköter unter den Medien, je angefangen, den Pudel der Mächtigen zu geben?
Wie alle Journalisten, mich eingeschlossen, weisen auch jene des «Blicks» eine merkwürdige Schwäche auf, man könnte sie als eine berufsbedingte Schizophrenie diagnostizieren. Wir möchten geliebt werden und Applaus in den herrschenden Kreisen erhalten, obwohl unser Beruf darin besteht, das Gegenteil anzustreben: Wer den Mächtigen auf die Finger klopft, wird zuerst für inkompetent erklärt oder Schlimmeres, dann, wenn die Fakten trotzdem stimmen, vielleicht gefürchtet, nie aber geliebt. Wer Dinge ausspricht, die niemand hören will, wird nicht zur nächsten Gala eingeladen, ohne dass er sich vorher entschuldigt hat.
Journalisten – die Verdammten dieser Erde
Journalisten, selbst wenn sie elegant und klug und faktentreu schreiben, sind im Grunde stets jene, mit denen man sich zwar gerne unterhält, weil sie so munter zu erzählen wissen, aber nur solange sie nicht über einen selbst schreiben. Dann weist man sie zur Tür oder grüsst sie auf der Strasse nicht. Mit anderen Worten, wir Journalisten gleichen den Verdammten dieser Erde, mit dem einzigen Unterschied, dass wir uns selber verdammen. Oder auch nicht – und darin lauert die Versuchung dieses Berufs. Nicht immer geben wir ihr nach, aber oft genug. Aus dem unerschrockenen Kritiker kann leicht eine Hofschranze werden, die singt und klatscht, wenn der König sich aus dem Bett erhebt oder sich die Nase schnäuzt. Es ist bequemer, es ist erfreulicher – abgesehen von einem lästigen Detail. Die Leute hören auf, einen zu lesen.
Noch hat der «Blick», dieses manchmal glänzende, manchmal freche, leider oft auch zahnlose Blatt, viele Leser. Noch ist Zeit genug, sich auf die glücklichen Tage als Strassenköter zu besinnen. Ich gratuliere herzlich.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Strassenköter oder Pudel
Markus Somm über den «Blick», eine 60 Jahre alte Zumutung.