Wahlbeteiligung in ThunStell dir vor, es sind Wahlen und niemand geht hin
Die Beteiligung an kommunalen Wahlen ist in Thun seit 1918 um über 45 Prozentpunkte zurückgegangen. Würde eine Wahlpflicht Abhilfe schaffen?

Im Bälliz oder online, in der Zeitung oder im eigenen Prospekt: Die total über 200 Kandidierenden für den Thuner Stadtrat, den Gemeinderat und das Stadtpräsidium werben momentan auf allen möglichen Kanälen um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Umso ernüchternder muss es für sie sein, dass am 27. November – trotz aller Bemühungen – wohl nur gut ein Drittel aller Stimmberechtigten von seinem Recht Gebrauch machen wird.
Noch bis Mitte der 1950er-Jahre lag die Wahlbeteiligung – mit Ausnahme der Weltkriegsjahre – stets über 80 Prozent.
Die Wahlbeteiligung ist in Thun – wie anderswo auch – seit längerem rückläufig. Immerhin verharrte sie in den vergangenen 20 Jahren bei rund 35 Prozent. Vorbei sind jedoch die Zeiten, in denen durchschnittlich vier von fünf Wählern den Wahlzettel ausgefüllt haben (vgl. Grafik). Noch bis Mitte der 1950er-Jahre lag der Wert – mit Ausnahme der Weltkriegsjahre – stets über 80 Prozent. Danach folgte der sukzessive Einbruch, wie Zahlen der Stadtverwaltung zeigen.
Interessant ist, dass auch vermeintliche Demokratie-Booster wie die Einführung des Frauenwahlrechts auf kommunaler Ebene 1970 oder die Herabsetzung des Wahlrechtsalters von 20 auf 18 Jahre anno 1990 keinen positiven Effekt auf die Beteiligung hatten. Im Gegenteil: Während die Zahl der Stimmberechtigten in Thun zwischen 1970 und 2018 von rund 22’500 auf knapp 32’000 gestiegen ist, sank die Zahl der abgegebenen Wahlzettel im selben Zeitraum von 13’953 auf 11’551.
Stadt bietet Hilfe-Video an
Wie die Stadt kürzlich mitgeteilt hat, stellt sie online ein PDF mit einer Wahlanleitung in leichter Sprache zur Verfügung. Auf derselben Website ist ausserdem ein neues, rund dreiminütiges Video mit den wichtigsten Infos rund ums Wählen aufgeschaltet. Sind diese Angebote eine Reaktion auf die sinkende Wahlbeteiligung respektive ein Versuch, diese wieder zu steigern? Gemäss Vizestadtschreiber Christoph Stalder hätten viele Menschen Mühe, die herkömmlichen Unterlagen zu verstehen. «Wenn es uns gelingt, mit diesem neuen Hilfsmittel Personen zur Teilnahme an den Wahlen zu motivieren, dann haben wir das Ziel erreicht», so Stalder zum erwähnten PDF. Allerdings sei dessen Erfolg nur schwer messbar.
Der Vizestadtschreiber hält weiter fest, dass sein Team der Stadtkanzlei der Bevölkerung bei Fragen beratend zur Seite stehe. Bereits vor vier Jahren sei ausserdem die offizielle Wahlanleitung aufgefrischt worden. Und: «Gerade die Parteien haben in diesem Jahr spürbar in die Kampagnen, vor allem in den sozialen Medien, investiert.» Stalder findet indes, dass letztlich wir alle gefordert sind. «Wahlen und Abstimmungen müssen am Familientisch, in der Schule, in der Pause an der Arbeit oder auch im Verein thematisiert werden.»
Wahlpflicht wirkt motivierend
Anreize zu schaffen, ist das eine – mit Strafen zu drohen das andere. Mehrere Kantone wie Zürich (bis 1984), Waadt (bis 1948) oder St. Gallen (bis 1994) kannten in der Vergangenheit die Stimm- und/oder Wahlpflicht. Im Kanton Schaffhausen existiert sie noch heute. Wer dort nicht wählt und abstimmt, zahlt eine «Busse» von derzeit sechs Franken. Bei eidgenössischen Urnengängen ist regelmässig zu beobachten, dass die Stimmbeteiligung in Schaffhausen 15 bis 20 Prozentpunkte höher liegt als im Rest des Landes.
«Bezüglich Wahlpflicht zeigt sich, dass zwar die Motivation und die Beteiligung in Schaffhausen höher sind, nicht aber die Kompetenz und die qualifizierte Beteiligung.»
Gemäss einer Lizenziatsarbeit von Eveline Schwegler aus dem Jahr 2009 führt die Stimmpflicht in Schaffhausen zwar zu einer höheren Beteiligung, nicht aber zu mehr politischem Interesse oder Engagement. Zudem werden dort deutlich mehr Leerstimmen eingeworfen als anderswo. Auch Marc Bühlmann vom Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern hat sich 2013 in einer Arbeit mit der Thematik auseinandergesetzt. Er kommt zum Schluss: «Bezüglich Wahlpflicht zeigt sich, dass zwar die Motivation und die Beteiligung in Schaffhausen höher sind, nicht aber die Kompetenz und die qualifizierte Beteiligung.»
Rechtlich nicht möglich
Doch wie sieht es im Kanton Bern und in der Stadt Thun aus? Wäre es überhaupt möglich, hier eine Regelung wie in Schaffhausen einzuführen? Die simple Antwort lautet: Nein. «Eine rechtliche Grundlage für die Einführung einer Stimmpflicht für kommunale Urnengänge gibt es im Kanton Bern nicht», erklärt Annina Hauck Bässler, stellvertretende Leiterin der Abteilung Politische Rechte bei der Staatskanzlei.
«Das war in Thun noch nie ein Thema.»
Letztmals unternahm BDP-Grossrätin Anita Luginbühl-Bachmann (Krattigen) 2016 mittels Motion einen Anlauf, Abstimmungen und Wahlen bis zum 65. Altersjahr im Kanton Bern obligatorisch zu erklären – unter Androhung einer Busse. «Der Regierungsrat hielt damals fest, dass die Einführung einer Stimmpflicht eine Änderung der Kantonsverfassung bedingen würde», sagt Hauck Bässler. So weit wollte Motionärin Luginbühl indes nicht gehen; sie zog den entsprechenden Punkt des Vorstosses zurück.
Ungeachtet dessen, dass eine Wahlpflicht rechtlich aktuell gar nicht möglich ist, sagt Thuns Vizestadtschreiber Christoph Stalder: «Das war in Thun noch nie ein Thema.» Zudem wäre es mit einem unverhältnismässig hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden, eine solche Pflicht lediglich für kommunale Abstimmungen und Wahlen einzuführen.
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