Eine letzte Scheibe für den Streitbaren
Robert Harting hat die deutsche Leichtathletik wiederbelebt. Er errang mit dem Diskus sechsmal Gold, zerriss seine Leibchen, legte sich mit vielen an. Jetzt trat er ab.

Und natürlich, um viertel vor zehn standen sie dann alle im Berliner Olympiastadion. Robert Harting hatte den Diskus ein letztes Mal an Titelkämpfen ins weite Rund hinausgeschleudert, zwar nicht so weit wie in seinen besten Zeiten, doch in der Endabrechnung sollte es mit 64,33 m Platz 6 werden. Für einen wie ihn, den Olympiasieger von 2012, den dreifachen Welt- und zweifachen Europameister kein Glanzresultat mehr. Die eigentliche Leistung aber hatte er am Tag zuvor erbracht, als er sich noch einmal für den Final qualifizierte. Nun also erhoben sich die einheimischen Zuschauer und feierten ihn, seine grosse Karriere und seinen Abgang.
Harting hat die deutsche Leichtathletik praktisch im Alleingang wiederbelebt und ihr im letzten Jahrzehnt ein Gesicht gegeben. Eines, das für Wettkampfstärke stand, Willen, Erfolg, aber auch eines, das oft widersprüchlich, provozierend, kontrovers und streitbar war. Im Vorfeld dieser EM prangte das Konterfei des 33-Jährigen überall, auf Plakatwänden, auf einem Hochhaus, sogar im jüngsten Mickymaus-Heftchen ist er verewigt, als Comicfigur mit Entenschnabel.
Der Tadel der Grossmutter
Als Lichtgestalt wird er in Deutschland bezeichnet, weil seine Dominanz zeitweise erdrückend war, aber auch weil er zu allem eine Meinung hat und diese gerne kundtut. Harting hat sich, obwohl als Diskuswerfer immer irgendwo am Rand im Stadion, sein Profil geschaffen, er wurde zum Teamleader, die meisten Athletinnen und Athleten schauen zum zwei Meter grossen Mann auf. Seine Popularität hat ihren Anfang genommen, als er an der WM 2009 nach seinem ersten Titelgewinn sein Shirt unter lautem Gebrüll zerriss. Später kultivierte er diesen Akt, indem er erst die Fotografen zusammentrommelte, um dann zur Tat zu schreiten. Seine Grossmutter hat das nie gern gesehen und ihn deswegen getadelt.
Harting hat aber nicht nur den Clown gegeben. Als ihn der Weltverband IAAF 2014 auf dem Höhepunkt seiner Karriere – er war gleichzeitig Olympiasieger, Welt- und Europameister – zum Welt-Leichtathleten vorschlug, verzichtete er auf diese Nomination. Der Cottbuser erklärte, er wolle nicht auf derselben Liste stehen wie US-Sprinter Justin Gatlin, der zweimal des Dopings überführt worden war. Er zwang die IAAF damit, ihre Nominierungsregeln zu ändern. Das war ein eindrückliches Zeichen Hartings – dass sein Trainer aber einst ins Dopingsystem der DDR verwickelt war, passte bei seiner Aktion nicht ganz ins Bild.
Der Frontalangriff von Storl
In seinem besten Jahr, 2012, als er in London Olympiagold gewann, hat Harting die Scheibe über 70 Meter weit geworfen. Danach gelang ihm dies nie mehr – seit einem Kreuzbandriss 2014 fand er nicht mehr zu alter Stärke. Seine chronischen Kniebeschwerden liessen keine saubere Ausführung der Drehtechnik mehr zu, nur noch Cortison half, die Schmerzen erträglich zu machen. Dass er nun die EM sogar mit angerissener Sehne bestritt, hat wohl nur damit zu tun, dass er neun Jahre nach dem Triumph im Olympiastadion noch einmal zurückkehren wollte. Gefallen hat dies nicht allen. So betonte Kugelstösser David Storl, er stehe als gesunder Sportler da, er habe keine Beschwerden. Und er finde, es müsse kein Athlet im Wettkampf stehen, der sich seine Sehne taub spritzen lasse. Dieser Frontalangriff galt natürlich Harting.
Überhaupt sind die atmosphärischen Störungen nicht weniger geworden. Das Verhältnis zu Bruder Christoph, dem Olympiasieger von 2016, bezeichnet er als «erfroren». Bis 2017 haben sie zusammen trainiert, sogar dann noch, als sie längst nicht mehr miteinander sprachen. Was zum Zerwürfnis geführt hat, darüber hat keiner je gesprochen – aus Achtung vor den Eltern. Dazu passt, dass Christoph Harting am Dienstag in der Qualifikation scheiterte und damit bei der Derniere des Bruders nicht dabei war. Vermutlich hat es Robert nicht gestört. So galt die Ovation nur ihm.
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