Sommerroman (17. und letzte Folge): The Sound of Silence
Auf Serges Love-Mobile geraten die Ereignisse ausser Kontrolle.

Was bisher geschah: Max wartet mit Mandy im Lazarett. Alle anderen Protagonisten treffen auf Serges Love-Mobile zusammen.
Es ist 17.51 Uhr. Die Sonne heizt, als ob sie den verregneten Sommer wieder gutmachen möchte, der Gabber dröhnt, Menschen kreischen. Die Parade kocht ihrem Euphorie-Siedepunkt entgegen.
Erich Badertscher hatte sich schnell zum Love-Mobile-Chef durchgefragt. Alle grinsenden Gesichter froren ein, als sie den Polizisten erblickten. Mit einem unschuldigen Nicken wiesen sie ihn zu einem Mann, dessen Augenringe grösser waren als Pflaumen. Mit verschränkten Armen und gestresstem Blick sah er auf eine kauernde Frauengruppe hinab.
«Ah, ein Polizist. Wollen Sie mich festnehmen? Ich war heute schon einmal im Bau. Nein? Sie suchen Franziska Bachmann? Da sind sie richtig. Hier sitzt sie. Hat wieder einmal einen Nervenzusammenbruch. Wieso? Das weiss ich doch nicht. Wer versteht schon die Frauen.»
Badertscher kniete nieder, beruhigte die zwei Freundinnen und berührte Franziska sanft an der Schulter.
«Frau Bachmann. Wir haben Max gefunden. Es geht ihm gut.»
Verschränkte Arme gaben verheulte Augen frei. Mehrmals wiederholte Badertscher seinen Satz, bis sich die verzweifelte Miene der Frau endlich aufhellte. «Wirklich? Ohne Überdosis?» Tanja und Steffi blickten verwirrt. «Er verhält sich etwas seltsam, scheint aber in Ordnung zu sein. Am besten bringe ich Sie zu ihm.»
Durch den Tränenschleier erkannte Franziska den Schnüggel vom Bauschänzli. Dass ausgerechnet er ihr die frohe Botschaft überbrachte, kam ihr vor wie ein Traum. Obwohl sie in den letzten Jahren eine Abneigung gegen öffentlich zur Schau gestellte Gefühlsregungen entwickelt hatte, sprang sie dem Polizisten um den Hals.
Zu viel passierte. Serge konnte sich nicht auf die seltsame Emo-Nummer konzentrieren, die Franziska mit dem Ordnungshüter abzog. Erst sah er Bri mit einem abgewrackten, schlecht angezogenen Kerl streiten. Wie hatte es dieser Penner nur auf seinen Wagen geschafft? Bevor er seiner Lieblings-Pflegefachfrau zu Hilfe eilen konnte, platschte eine schwere Hand auf seine Schulter. Als er sich umdrehte, blickte er zu einem der Holländer hoch, die gerade sein LoveMobile gestürmt hatten. Serge hätte sie am liebsten nach unten prügeln lassen. Aber die Mitarbeiter meinten, dass solche Party-Kanonen den Alkoholverkauf antrieben. Zudem seien die Typen aus Rotterdam und kennten den DJ. «Was ist?», fragte Serge entnervt. «I'm Art. Do you remember me?» «Ich kenne viele. Aber dich Grachtenkacker habe ich noch nie gesehen.»
Ein grenzdeutscher, von Speichel und Biermundgeruch begleiteter Redeschwall ergoss sich über Serge. Ständig tauchten Wörter wie «Arschloch», «Zelt», «letzte Nacht» und «gekotzt» auf. Der Holländer, der, wie Serge angeekelt bemerkte, keine Hosen trug, schrie immer lauter und zeigte auf seinen Kiefer.
«Fuck you!», sagte Serge, der sich um Bri kümmern wollte. Dann hörte er ein Knacken, und seine Welt verschwand hinter einem dunklen Vorhang. Beide befiel Panik. Bri glaubte, Frank habe den Polizisten auf den Wagen geschleust, um sie verhaften zu lassen. Frank wiederum befürchtete, Bri habe Erich Badertscher alarmiert. «Du hast mich verraten!» «Nein, du!» «Ich habe der Polizei nichts gesagt.» «Ich erst recht nicht.» «Und warum ist er hier?» «Sag du es mir!» Ein paar Tänzer stoppten ihre Bewegungen, um das ungleiche, keifende Paar zu betrachten. Dann zog noch lauteres Geschrei die Aufmerksamkeit auf sich. Auch Bri wandte sich um. Sie sah gerade noch, wie Serge taumelte und dann wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden auf den Boden sackte. Instinktiv rannte sie los.
Erich Badertscher versuchte vergeblich, Ordnung herzustellen. Zu laut hämmerte der Techno, zu grell blendete der See, den die Sonne in einen gleissenden Spiegel verwandelt hatte. Der nach «Rache!» schreiende Holländer wurde von seinen Kollegen gegen die Attacken der Sicherheitsleute abgeschirmt. Über dem kreidebleichen Serge kniete eine als Krankenschwester verkleidete Frau, die ihm die Backe tätschelte. Franziska hing an Erichs Arm, darum flehend, sie doch endlich zu ihrem Sohn zu bringen. Irgendwo stand der Journalist Frank Zumsteg, der abwechselnd auf die Uhr blickte und auf die Krankenschwester einredete. Diese schüttelte genervt den Kopf, bis sie Frank schliesslich ihre Handtasche hinstreckte. Frank packte sie und verschwand.
Über dem Seebecken kreiste ein Helikopter. «Wie aufgeregte Ameisen», dachte der Pilot, der vom Lokalfernsehen für den heutigen Tag gebucht worden war. Der VJ addierte die Besucherzahl, die er von der Stadtpolizei bekommen hatte, zur Besucherzahl, die er von den Organisatoren bekommen hatte, und teilte das Resultat durch zwei. Die Wahrheit, das hatte er gelernt, lag stets irgendwo dazwischen. Nur die Bilder, die sein Sender in die Zürcher Stuben brachte, glichen jenen vom Vorjahr. Und jenen vom Jahr vor dem Vorjahr. Dann wurde es still. Es war eine akustische Sonnenfinsternis. Erst begriff niemand, was passierte, Hunderttausende Menschen tanzten weiter, obwohl sämtliche Lautsprecher schwiegen. Es war, wie wenn im Fernseher kurz der Ton ausfällt. Nach einer halben Minute begann das grosse Protestgeschrei, überall rannten Techniker herum, die mit verzweifelten Gesichtern an den Anlagen der LoveMobiles und Bühnen herumschraubten. Vergeblich. Es folgte eine umfassende Ratlosigkeit, erste Besucher zogen ab, vor den Restaurants, deren Boxen noch funktionierten, bildeten sich Menschenaufläufe. Die Fotografin Leni Biermann drückte nonstop auf den Auslöser ihrer Canon. Das andere Bild, hier war es endlich. Aus Angst vor Randalen wiesen immer mehr Wirte ihre DJs an, den Sound abzudrehen. «Gönd häi!», schrie einer.
Und das machten sie.
Epilog
Anna Bachmann hatte noch einen Apfelkuchen gebacken, bevor sie nach Hause ging. Um ihre Nerven zu beruhigen und ein bisschen auch wegen ihres schlechten Gewissens. Auch wenn sie nichts dafürkonnte, war doch sie es, die ihrem Enkel ein Ecstasy verabreicht hatte.
Jetzt sass Max mit leerem Blick auf dem Sofa und klammerte sich an seinen Plüschtiger. «Iss noch etwas», sagte Franziska, die immer noch feuchte Augen hatte. «Dein Mami hat recht, Vitamine helfen», sagte der Mann neben ihr. Über den Stuhl im Esszimmer hing eine blaue Polizistenjacke.
Lokaljournalist Frank Zumsteg fuhr seinen Computer runter. Die Geschichte war im Kasten. Auch andere würden morgen über die grosse Stille an der Street-Parade berichten. Aber nur er hatte die Zitate der dafür Verantwortlichen, die er natürlich anonymisierte. Quellenschutz nannte man das in der Branche. Oder in seinem speziellen Fall auch: die eigene Haut retten. Beim Verlassen der Redaktion warf er lächelnd den Zünder in eine nahe Baugrube.
«Du brauchst Ferien», sagte Bri. Sie und Serge waren die Einzigen, die noch auf dem Love-Mobile sassen, das wie ein Autowrack in der Wüste aussah, dem vor Monaten der Sprit ausgegangen war. Aus der Ferne war das Surren eines städtischen Reinigungsfahrzeugs zu hören. «Es geht mir dreckig», sagte der ehemalige Szene-König. «Und Ferien kann ich mir nach dieser Geschichte heute erst recht nicht mehr leisten.» Bri strich dem Häufchen Elend zärtlich über den Kopf. «Ich habe vielleicht was auf der Seite.»
Irgendwo in einem illegalen Keller tanzte Mandy. Es war einer der wenigen Orte, an denen die Party irgendwie weiterging. «Willkommen zurück bei den Wurzeln», hatte die Barfrau sie begrüsst, nachdem sie ein Radler für verblüffend günstige 3 Franken bestellt hatte. Neben ihr stand ein grosser, schlanker Mann, der ihr sofort gefiel. Mandy nahm allen Mut zusammen und sprach ihn an: «Du glaubst ja gar nicht, was mir heute Verrücktes passiert ist. Aber verrat mir doch bitte zuerst, weshalb du keine Hosen trägst.»
Irgendwo auf der menschenleeren Gasse knisterte es aus einem liegen gelassenen Radio: «Hello, darkness, my old friend . . .»
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