Sobald die unsichtbare Mauer fällt, ist die Herzlichkeit gross
Im Leben der Jenischen trifft Vergangenes auf die Gegenwart, und wer sie einmal richtig kennen gelernt hat, weiss ihre Gastfreundschaft zu schätzen: Bilanz meiner Woche auf dem Platz für Fahrende in Matten bei Interlaken.
Etwas muss man den Jenischen wirklich lassen: Sie sind gastfreundlich. Das heisst nicht, dass es ohne Anlaufzeit ginge: Als ich vor einer Woche für meine Artikelserie über die Jenischen auf dem Halteplatz in Matten vorfuhr, spürte ich Distanz.
Weil Claude Gerzner mit seiner Frau und den beiden Söhnen noch weg war, fragte ich bei seinem Nachbarn nach. Viel mehr als ein freundliches Kopfnicken hin zu Gerzners Wohnwagen lag nicht drin.
Unvermittelt fühlte ich mich zurückversetzt in den April, als ich zur Vorbereitung die Familie persönlich kennen lernen wollte. Ich reiste zu ihrem damaligen Halteort im Aargau, traf dort die Söhne beim Fussballspiel an und fragte nach den Eltern. Zur Antwort bekam ich die knappe Gegenfrage: «Warum?»
Es ist dieses mehr oder weniger offene Misstrauen, das den ersten Kontakt zum fahrenden Volk so schwierig macht. Umso herzlicher wird das Verhältnis, wenn die unsichtbare Mauer fällt.
Bei mir passierte es am Tag nach dem Erscheinen des ersten Artikels: Plötzlich wurden auch die Einsilbigsten gesprächig, alle wollten wissen, ob mir wohl bei ihnen sei. Natürlich sei ich unter ihrem Vorzelt jederzeit herzlich willkommen – und ja, zu essen und zu trinken gab es fortan sowieso immer.
Natürlich hat die Zurückhaltung Gründe. Zu lange ist die fahrende Minderheit von der sesshaften Mehrheit ausgegrenzt worden, zu stark wirken die teils tiefen Wunden bis heute nach.
Verstärkend wirken sich auch die starken familiären Bande aus. Wie so oft hat alles eine Kehrseite: Wer gegen innen derart eng zusammenhält, läuft Gefahr, sich gegen aussen nur umso mehr abzuschotten.
Das hat wohl auch zu tun mit der Art, wie die Kinder aufwachsen. Die Söhne und Töchter, das bekam ich mehrmals zu hören, stellen das Zentrum der Familie dar. Sie sind immer um ihre Eltern herum, während der Reisezeit von Frühling bis Herbst gezwungenermassen, nicht selten auch in der winterlichen Standzeit.
Nur zu rasch geht dann vergessen, dass sie den Umgang mit den Jugendlichen aus der anderen, der sesshaften, Welt gar nie lernen, wenn sie auch dann privat unterrichtet werden.
Dabei wird dieser Kontakt für ihr Überleben zentral sein. Seis als Hausierer, seis als Handwerker – das ganze jenische Leben hängt davon ab, wie sie mit den Ansässigen geschäften. Claude Gerzner sagte mir nicht ohne Grund, ein Vorteil seiner schwierigen Jugend im Heim sei, dass er auch die andere Welt kenne.
Vergangenheit und Gegenwart liegen eng beieinander in diesem familiären Zusammensein. Besonders intensiv erlebte ich dies am Abend, wenn die Angehörigen von nebenan auf einen Schwatz vorbeikamen. Da sass man in trauter Runde im Dämmerlicht, und wie die Rede auf diesen kam und auf jene, fand ich mich unvermittelt in längst vergangenen Zeiten wieder.
Da ging es um den Verwandten, der sich nachts Zutritt zum Friedhof verschaffte, um bei einem Verstorbenen schlafen, sprich Totenwache halten, zu können. Und um die Verwandte, die krank im Spital lag und rund um die Uhr so viel Besuch hatte, dass draussen im Gang Betten aufgestellt werden mussten.
Jenische bezeichnen sich nicht ohne Grund als freies Volk. Das zeigt sich zum einen natürlich in ihrer fahrenden Lebensweise, weiter aber auch in ihrem flexiblen Umgang mit der Zeit. Mir fiel auf, wie sehr sie sich an dem, was gerade ist, orientieren.
Das kann das Wetter sein oder der Gang ihrer Geschäfte, kurz: Sie pflegen einen Zeitbegriff, der – wie die Geschichten in der Feierabendrunde – so gar nicht in die streng getaktete und wohlorganisierte Welt von heute passt.
Trotzdem gehen die Jenischen mit der Zeit, beim Fahrzeugpark sowieso, aber auch in der Art, wie sie den Kontakt untereinander auch noch pflegen. Dabei spielt das Handy die entscheidende Rolle, dauernd gehen Nachrichten hin und her. Das war bei jenem Video, das mir Claude Gerzner an einem Abend auf seinem Smartphone zeigte, nicht anders.
Ich sah, wie im Aargau Romas ein Feld in Beschlag nahmen, und plötzlich stand die Frage unausgesprochen im Raum: Wird es in den nächsten Tagen um diese Fahrenden, von denen sich die Jenischen klar abgrenzen, wieder Ärger geben?
Eine Sache blieb mir bis fast ganz am Schluss ein Rätsel. Als Claude Gerzner Anfang Woche nach einer Hausierertour mit vielleicht 300 Franken Umsatz auf den Platz zurückkam, fragte ich mich ernsthaft, wie er so nach Abzug der Kosten für den Ankauf und die Fahrspesen seine Familie durchbringen kann.
Das Geschäft sei schleppender gelaufen als auch schon, antwortete er. Und ja, wenn er als Handwerker unterwegs sei, sei der Verdienst in der Regel besser.
Die Sache liess mir keine Ruhe. Zumal sich auch Leser der Artikelserie fragten, wie sich, etwas salopp gesagt, mit dem Verkauf von Bürsten ein Auskommen überhaupt verdienen lässt. Also bohrte ich bei einem meiner letzten Gespräche nach, wohl wissend, dass Schweizer, als die sich die Jenischen ja verstehen, nur ungern über ihr Einkommen reden.
Trotzdem wurde er jetzt deutlicher: Es stimme, eigentlich bräuchte er dreimal mehr Tagesumsatz. Mit intensivem Einsatz sei dies zu schaffen. Und wenn mal keine Reserven da seien, arbeite man so lange, bis das Geld beisammen sei.
Am letzten Tag tauchte unverhofft ein Anwohner auf dem Platz auf. Er habe in der Zeitung über die Jenischen gelesen und wolle ihnen eine Renovationsarbeit an seinem Haus anvertrauen, sagte er.
In den nächsten Tagen wird Claude Gerzner nun bei ihm vorbeischauen – wenn das kein versöhnlicher Abschluss dieser Artikelserie ist.
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