Sind EU-Bürger bald illegal?
Der Brexit könnte Millionen Kontinentaleuropäer in eine prekäre Lage stürzen. Eine Bürgerinitiative will das Schlimmste verhindern.

Vielen Briten ist reichlich mulmig zumute beim Gedanken an einen «No Deal»-Brexit in wenigen Tagen. Noch viel nervöser dürften ihre Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sein, die aus dem Rest der EU stammen. Falls nämlich Grossbritannien am 12. April ohne Vereinbarung mit Brüssel aus der EU ausscheidet, werden 3,6 Millionen Bürger aus 27 EU-Ländern zu illegalen Einwanderern. Sie werden über Nacht zu «Aliens», zu rechtlosen Eindringlingen im Vereinigten Königreich.
Niemand garantiert ihnen dann noch, dass sie bleiben dürfen, dass sie weiter in Grossbritannien arbeiten können, dass sie nicht aus ihren Wohnungen oder Häusern ausziehen müssen. Zu diesem Schluss ist ein Bericht des parlamentarischen «Ausschusses für Menschenrechte» in Westminister gekommen, der alarmiert darauf hinweist, dass bei einem «No Deal» für diesen Bevölkerungsteil alle Rechte erlöschen.
Es gibt keine Garantien
Statt wie bisher von EU-Recht abgedeckt zu werden, würden Millionen in Britannien ansässiger EU-Bürger nach dem Brexit britischem Einwanderungsrecht unterliegen – und das würde sie dem Ausschussbericht zufolge «aller Rechte berauben, ohne dass sie eine Garantie haben, dass diese Rechte durch neue ersetzt werden». Selbst die Iren, die immer Sonderrechte genossen, könnten sich dieser nicht mehr sicher sein.
Für Maike Bohn kommt das nicht als Überraschung. Die deutsche Bildungsberaterin, die mit ihrem britischen Mann in der Stadt Bristol wohnt, ist empört darüber, dass sich seit der britischen Austrittserklärung vom März 2017 trotz aller Warnungen «im Grunde kaum etwas geändert» habe: «Von Rechts wegen haben wir nicht mehr Sicherheit als vor zwei Jahren.» Leider habe auch die EU nicht genug getan, um daran etwas zu ändern: «Wir sind bis zuletzt Verhandlungskapital geblieben.»
Nicht vergessen hat Bohn, was für einen Schock schon das Referendumsresultat im Sommer 2016 bedeutete. «Wir hatten ja kein Stimmrecht damals. Und da wurde etwas entschieden, was uns auf einmal zu einer Minderheit machte. Mit einem Mal wurden wir von Europäern, die friedlich hier lebten, zu Migranten. Zu Migranten, denen ihre angestammten Rechte aberkannt werden sollten.» Noch immer findet sie es «unglaublich», dass damals selbst EU-Bürger, die seit Jahrzehnten hier lebten, kein Recht hatten, über ihre Zukunft mitzubestimmen. Dagegen waren Zuwanderer aus dem Commonwealth, selbst wenn sie erst kurz vor dem Referendum nach Grossbritannien gekommen waren, voll stimmberechtigt.
«Anfangs wussten wir gar nicht, was auf uns zukommt», meint Maike Bohn. Als die Leute dann aber begriffen, dass sich alles ändern würde, suchten sich viele in aller Eile über die üblichen 85-Seiten-Anträge für Zuwanderer aus Drittländern zumindest permanentes Aufenthaltsrecht zu verschaffen, «um irgendein Papier in der Hand zu haben». Das aber führte zu jenen notorischen Antwortschreiben des Innenministeriums, in denen Antragsteller fälschlich als illegale Einwanderer eingestuft und zum sofortigen Abzug aus Grossbritannien aufgefordert wurden – obwohl die Betreffenden noch immer EU-Recht unterlagen, also das Recht hatten, im Land zu sein.
Mit Deportation gedroht
Die Schreiben mit ihren Deportationsdrohungen sorgten damals für viel Aufregung und Empörung. «Vor allem merkten wir auf einmal, was da los war, was für ein System feindseliger Ausgrenzung Theresa May schon als Innenministerin aufgebaut hatte und dass wir dem plötzlich ebenfalls ausgeliefert waren», sagt Maike Bohn. Sie und eine Gruppe befreundeter EU-Bürger gründeten unter dem Eindruck dieser Entwicklung die Bürgerinitiative «the3million», die seither das wichtigste Sprachrohr der verstörten Europäer auf der Insel ist.
Im Büro des Verbandes, einem kleinen Raum in einer aufgefrischten Werkshalle in Bristol, suchen Bohn und ihre Mitstreiter den Betroffenen mit Informationen zu helfen und als Lobby-Gruppe Einfluss zu nehmen auf die Londoner Politik und auf die Reaktionen der EU.
Erleichtert sind «the3million» jedenfalls über die Regelungen, die in den Austrittsvertrag eingegangen sind, den London und Brüssel voriges Jahr ausgehandelt haben. Dieser Vertrag begründet den Status «fest angesiedelter» Bürger. Er sichert EU-Bürgern wenn nicht alle früheren Rechte, so doch ein paar grundlegende zu. Um den neuen Status müssen sich EU-Bürger in Grossbritannien vor Ende 2020 bewerben, indem sie nachweisen, dass sie seit mindestens fünf Jahren im Lande gelebt haben. Die Bewerbung läuft per Handy. Wer erfolgreich ist, wird vom Ministerium mit einer digitalen Nummer versehen.
«Mit einem Mal wurden wir von Europäern, die friedlich hier lebten, zu Migranten.»
Der Bewerbungsprozess ist gerade angelaufen, hat aber schon Klagen ausgelöst. Nicht nur ist die rein elektronische Form der Selbstregistrierung für viele ältere und benachteiligte Personen wenig geeignet. Auch dass man am Ende nur irgendwo im Ministerium als Nummer existiert und nicht mal ein Zertifikat zum neuen Status erhält, gefällt den Sprechern von «the3million» nicht. «Wir sind dann die einzige Gruppe in Grossbritannien, die kein Dokument vorweisen kann», sagt Maike Bohn. Denn registrierte Immigranten aus aller Welt verfügen über entsprechende Papiere.
Das hat zum Vorwurf geführt, EU-Bürger würden zu Bürgern 2. Klasse herabgestuft. «So was kann fatal sein, wenn man ganz schnell mal seinen Status nachweisen muss. Wenn ich zum Beispiel eine Wohnung mieten will, stehe ich dumm da und muss die Vermieter fragen, ob sie bitte mal auf ihrem Computer die Rechtsmässigkeit meiner Existenz im Lande überprüfen könnten – während ein Australier seinen Ausweis aus der Tasche zieht und keine Probleme hat. Das Ganze ist ein Experiment», meint Maike Bohn. «Unsere Sorge ist, dass ein völlig digitales Meldesystem nicht funktionieren wird.»
Schlaflos und depressiv
Sorgen gibt es auch, weil sämtliche gespeicherten Daten von der Regierung weitergereicht werden können, ohne dass die Betroffenen erfahren, an wen sie gehen. Und dies ist noch die beste Lösung, weil sie auf einer vertraglichen Regelung basiert. Sollte es am 12. April zu einem Austritt ohne vertragliche Vereinbarung, stehen die 3,6 Millionen EU-Bürger erst einmal ganz ohne Sicherheit da. Kann man sich dann als EU-Bürger zum Beispiel weiter im staatlichen Gesundheitswesen behandeln lassen? Viele Fragen dieser Art sind bislang ungelöst. Kein Wunder, meint Maike Bohn, dass so viele EU-Bürger sich elend fühlen: «Viele schlafen schlecht. Und Ärzte und Therapeuten, die wir kennen, berichten von sehr viel mehr Depressionen und anderen persönlichen Problemen.»
Zurück nach Hause
Zahlreiche Kontinentaleuropäer haben denn auch kapituliert und sind wieder nach Hause gezogen. Andere aber, die sich zur Wehr setzen und ihre Rechte in der Öffentlichkeit verteidigen, werden oft angefeindet. Einige haben anonyme Drohungen erhalten. «Ich bin jeden Tag wieder erschüttert über das, was hier in meiner Wahlheimat passiert», sagt Bohn.
Froh ist sie in dieser Situation um ihren familiären Rückhalt – und um die internationale Solidarität, die die Arbeit für «the3million» mit sich gebracht hat. Ausserdem, meint sie, gebe es ja auch viele Briten, gerade auch der jüngeren Generation, die sich gegen die alten Ressentiments im Lande stemmten: «Was sich da gewandelt hat, darf man nicht unterschätzen. Innerhalb der letzten zwei Jahre habe ich hier eine regelrechte Bürgerbewegung für Europa und die EU heranwachsen sehen, wie es sie früher nicht gab.»
In der Nacht auf Samstag ist der britische EU-Austritt fällig. Ausser natürlich die EU gewährt Grossbritannien auf ihrem Sondergipfel am Mittwoch noch einmal eine Verlängerung der Austrittsfrist. Dafür müsste Theresa May allerdings mit einem «klaren Plan» aufwarten. Und den müsste das britische Parlament irgendwann noch billigen. Ein paar besonders wirre Tage und schwere Entscheidungen stehen Londons Politikern bevor.
Konfliktpunkt Zollunion
Welche Wahl haben die Briten? Sie können auf eine Fristverlängerung eingehen, wenn ihnen eine von der EU angeboten wird. Oder sie können zum Wochenende ohne vertragliche Vereinbarung aus der EU ausscheiden. Die dritte Möglichkeit wäre, in letzter Minute die Austrittserklärung vom März 2017 zu widerrufen. Das kann London bis 23 Uhr britischer Zeit am Freitag tun.
Zugleich sucht May immer noch ihren dreimal gescheiterten Austrittsvertrag durchs Parlament zu bringen. Um diesen Vertrag der Opposition schmackhaft zu machen, nahm sie vorige Woche Verhandlungen mit Jeremy Corbyn, dem Labour-Chef, auf. Sie hat Corbyn Mitsprache beim künftigen Verhältnis Grossbritanniens zur EU in Aussicht gestellt.
Bei den Verhandlungen dreht sich alles um Labours Forderung eines festen britischen Verbleibs in einer Zollunion mit der EU und weiterer enger Verbindung zum EU-Binnenmarkt. Beides hatte May seit 2016 immer grundsätzlich abgelehnt.
Weiter enge Verbindungen
Etliche Hardliner, darunter auch mehrere hohe Minister, würden ein Nachgeben in dieser Frage als «Verrat» betrachten. Eine britische Teilnahme an den Europawahlen ist für viele Tories ebenso inakzeptabel. Und von einem neuen Referendum will May nichts hören. Darin ist sie sich mit Corbyn einig. Allerdings befindet sich der Oppositionsführer in dieser Frage unter dem Druck seiner Partei.
Kommt es zu keiner Einigung, soll es rasch neue «Präferenz-Abstimmungen» im Unterhaus geben. Eigentlich war der Dienstag dafür reserviert. Nun will May heute aber nach Berlin und Paris reisen.
Nicht ausweichen kann sie einem Hinterbänkler-Gesetz, das die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper heute gegen sie einsetzen möchte. Das «Cooper-Gesetz», das im Eilverfahren und gegen den Willen der Regierung zustande kam, soll sicherstellen, dass May die EU am Mittwoch um eine Fristverlängerung bittet. Die gewünschte Länge dieser Frist will ebenfalls das Parlament bestimmen.
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