Sie hat die News in den Händen
Gaby Hauswirth bewegt sich als Hörende in der Welt der Gehörlosen. Für sie übersetzt die 31-Jährige die SF-«Tagesschau». Und auch ganze Konzerte.
Wer nicht hören kann, will sehen. Gehörlose sind Augenmenschen und kommunizieren am liebsten in ihrer eigenständigen, visuellen Gebärdensprache. Durch Mimik, Hand- und Lippenbewegungen können sie lautlos alles verständlich machen, was sich auch in gesprochener Sprache sagen lässt. Doch was, wenn ein hörender und ein gehörloser Mensch sich vertieft unterhalten möchten und ersterer die Gebärdensprache nicht beherrscht? In solchen Momenten sind Dolmetscher oder Dolmetscherinnen gefragt. Zum Beispiel Gaby Hauswirth. Sie arbeitet seit zehn Jahren freiberuflich überall dort, wo mündliche Informationen zwischen Hörbehinderten und Normalhörenden mitgeteilt oder ausgetauscht werden. Das heisst bei Eltern-Lehrer-Treffen oder Unternehmenssitzungen, bei Kongressen oder Kulturveranstaltungen – und beim Schweizer Fernsehen. Auch «Kassensturz» Für Gehörlose gibt es seit dem 1.November letzten Jahres die Hauptausgabe der «Tagesschau» live um 19.30 Uhr auf dem Info-Kanal und den «Kassensturz» samstags in einer Wiederholung. Links im Bild steht dann jeweils eine Person, welche die Beiträge simultan in die Deutschschweizer Gebärdensprache übersetzt. Gaby Hauswirth gehört zum achtköpfigen SF-Dolmetscherteam. Sie reist vier- bis sechsmal pro Monat ins Studio Zürich, um für die beiden populären Sendungen zu arbeiten. Schon lange vor der Ausstrahlung der «Tagesschau» befasste sie sich eingehend mit der aktuellen Nachrichtenlage. Dabei erhält sie vor Ort Support von einer gehörlosen Person, mit der sie die Inhalte und passenden Gebärden bespricht. Dennoch verlangt die Simultanübersetzung vor der Kamera zuweilen Improvisationsgeschick, denn das Tempo der Sendung ist hoch und erlaubt keine Verschnaufpausen. Ruhe bewahren «Es kann passieren, dass ich wegen eines kurzfristig eingeschobenen Berichts einen mir unbekannten Begriff nicht einfach gebärden, sondern mit dem Fingeralphabet etwas aufwendiger buchstabieren muss», erzählt Gaby Hauswirth. Ein tägliches «Sahnehäubchen» sei auch die Vorschau auf «10vor10» am Ende der «Tagesschau»: «Da haben wir im Voraus keine Ahnung, was angekündigt wird.» Besondere Ruhe zu bewahren galt es einmal, als der ihr vorgespielte Film im Teleprompter nicht mit dem Thema des «Tagesschau»-Sprechers übereinstimmte: «Vor mir lief eine halbe Stunde lang nonstop die Übertragung der Tour de Suisse, während per Ton politische Fakten vom Ausland erläutert wurden», erinnert sich die Dolmetscherin lachend. Je intimer, desto kleiner Gaby Hauswirth meistert solche Herausforderungen offenbar gut. «Die Rückmeldungen sind allgemein durchaus positiv», erzählt sie. Weil jedes Teammitglied einen ein bisschen anderen Stil habe, müssten sich die Gehörlosen zunächst an eine Person gewöhnen, aber mittlerweile sei im Bekanntenkreis – wie wohl bei allen TV-Schaffenden – nicht eigentlich das Dolmetschen ein Thema, sondern Kleidung und Frisur. Warum hat sie genau diesen Beruf gewählt? «Als ich mit elf Jahren beim Tennis regelmässig Kontakt zu einem gehörlosen Mädchen hatte und mit diesem kommunizieren wollte, entschied ich mich, die Gebärdensprache zu lernen», berichtet die 31-jährige Bernerin. Angeeignet hatte sie sich das spezielle Können in Kursen des Schweizerischen Gehörlosenbundes sowie in der Gemeinschaft von Gehörlosen, wo sie auch deren eigene Kultur verinnerlichte. So erfuhr sie schon als Jugendliche, dass in einem Raum mit hundert Leuten trotz Stille lebhaft kommuniziert wird, dass bei einem intimeren Gespräch die Gebärden kleiner werden und dass tonlose Kommunikation zu mehr Körpernähe und Körperkontakt führt. Dauert es lange, bis man sich klar ausdrücken kann? «Man kann schnell ein paar Gebärden produzieren und verstehen, aber um komplexe Inhalte in der richtigen grammatikalischen Anordnung mit der entsprechenden Mimik zu formulieren, braucht es einige Jahre intensiven Lernens.» Eigene Grammatik Umso mehr erstaunt es, dass die Gebärdensprache staatlich nicht offiziell anerkannt und an den Gehörlosenschulen noch immer stiefmütterlich behandelt wird. Nach wie vor versucht man, hörbehinderte Kinder und Jugendliche an die deutsche Lautsprache heranzuführen, damit sie sich in die hörende Gesellschaft integrieren (siehe Kasten). Gaby Hauswirth: «Dieses Ansinnen sitzt tief, ist aber widernatürlich. Ein gehörloses Kind möchte sich schlicht und einfach mitteilen oder sehen, was ihm jemand sagt, und nicht krampfhaft Laute von sich geben, die es selber nicht hört.» Schliesslich, so die erfahrene Dolmetscherin, bestehe die Gebärdensprache nicht einfach aus Gesten, «die in der Luft herumwirbeln». Sondern sie sei erwiesenermassen ein vollständiges Sprachsystem, eine reproduzierbare (Fremd-) Sprache mit eigener Grammatik, die vorschreibe, wie Mimik und Lippenbewegungen die Gebärden unterstützen sollen. Können beim Übersetzen Fehler und Missverständnisse vorkommen? «Gewiss», betont Gaby Hauswirth. «Jede Bewegung bedeutet eine klare Aussage, also kann man auch danebengreifen. Gleichzeitig gibt es – entsprechend der Lautsprache – verschiedene Formen, um etwas auszudrücken.» Gebärdet man «König» auf Hochdeutsch gleich wie auf Schweizerdeutsch? «Ich kenne die hochdeutsche Gebärde nicht, da wir nur in Deutschschweizer Gebärdensprache übersetzen. Aber wahrscheinlich gebärdet man die gesellschaftliche Hierarchie auf der ganzen Welt mit oben und unten, während es für die Ausgestaltung der Krone viele Varianten gibt.» Und wie zeigt man «Waffenstillstand»? Die Dolmetscherin formt ihre Finger zu zwei Pistolen und lässt sie sogleich zur Seite kippen. 100 Stunden für Gölä Wenn Gaby Hauswirth über Gebärdensprache und ihre Arbeit als Dolmetscherin redet, schwingt augenfällig Begeisterung mit. Poetry-Slams zu gebärden, gehört ebenso dazu wie das Übersetzen von Musik. Nur: Wie lässt sich denn Musik gebärden? Hauswirth erläutert: «Wir versuchen, unmittelbar neben den Interpreten mit dem Einsatz unseres ganzen Körpers ein Gesamtbild der Musikwahrnehmung zu übermitteln, und zwar bei Jazz ebenso wie bei Opern oder Popkonzerten.» Transportiert werden Textinhalte und Stimmung im Raum, Intensität, Rhythmus und das Zusammenspiel der Instrumente. Poesie und Musik zu übersetzen, sei besonders aufwendig. Ein Livekonzert von zwei Stunden mit zwanzig Liedern, zum Beispiel von Gölä, bedeute rund hundert Stunden Vorbereitung. Bleibt da noch Zeit für Privates? «Auf jeden Fall», sagt Gaby Hauswirth, die mit ihrem Partner und seinen zwei Buben (8 und 13) in Bern lebt. Am meisten freie Zeit investiert die Gebärdensprachdolmetscherin aber in ihr ehrenamtliches Engagement beim Verein MUX für Musik und Gebärdensprache. Schliesslich ist diese Arbeit für sie im wahrsten Sinn des Wortes Musik. Eva Holz Egle >
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch