
Seine Anhänger nennen ihn «Capitano», Kapitän, wobei nicht so klar ist, ob sie das eher im seefahrerischen oder fussballerischen Sinn meinen. Matteo Salvini soll der Spitzname ganz gut gefallen: nahe am Kommandanten, nicht sehr weit vom General.
Die Europawahlen haben den Aufstieg des Innenministers von der rechten Lega mit einer Deutlichkeit bestätigt, wie er das selbst nicht für möglich gehalten hatte. Ein Triumph sondergleichen. Salvini ist jetzt Italiens De-facto-Premier, der eigentliche Chef im Haus. Er gibt Takt und Themen vor. Das tat er zwar schon früher, laut aus dem Hintergrund. Nun sollte man ihn aber besser ernst nehmen, auch in Brüssel. Sonst wird er noch grösser.
In der Nacht des Wahlsiegs skizzierte Salvini seinen Plot der nächsten Monate. Der soll ihn wohl zu vorgezogenen Neuwahlen tragen, wahrscheinlich schon im Herbst. Ein Showdown soll es werden: Italien gegen alle. Gegen die EU und die «letterine», die Brieflein, wie er die Warnschreiben aus Brüssel wegen exzessiver Staatsschulden höhnisch nennt. Salvini behauptet gerne, fremde Mächte trachteten danach, Italien zu behindern und zu schaden, währenddem er Fesseln lösen, Renten verbessern, Steuern senken wolle. Letzteres übrigens ganz massiv: mit einem «Fiskalschock» für dreissig bis fünfzig Milliarden Euro.
Der «Capitano» gibt immer den Herausforderer
Natürlich ist das alles grotesk. Italien kann sich nichts davon leisten. Die Staatsschulden wachsen, mittlerweile sind sie bei fast 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angelangt. Als Obergrenze gilt eigentlich 60 Prozent, wenigstens als idealer Richtwert: In Italien stimmt aber auch die Tendenz nicht mehr. Und da die italienische Wirtschaft stagniert, wird das noch eine Weile so bleiben. Die Gestaltungsfreiheit für das kommende Budget ist also minimal.
Salvini weiss das, darum brüllt er. Er weiss auch, dass sich die europäischen Regeln, die Italien allesamt in seine nationale Gesetzgebung übertragen hat, nicht über Nacht ändern lassen. Niemand will das, nicht einmal seine neuen Freunde im Europaparlament, die Alliierten aus der «Internationalen der Souveränisten». Die Nationalisten der AfD und anderer rechtspopulistischer Parteien reagieren sogar besonders rabiat, wenn man den Defizitsündern im Süden Ablass gewährt.
Doch Salvini funktioniert nun mal nur als Gegenspieler, als Hetzer und Provokateur, und das bisher ziemlich erfolgreich. Er teilt aus und lässt kommen, wie ein Boxer. Der «Capitano» gibt immer den Herausforderer. Scheitert er, wird er behaupten, er habe den Wandel ja mit Macht herbeiführen wollen, doch die Bürokraten und die Banker seien gegen das italienische Volk. Alle gegen Italien. Dem sollte Brüssel Rechnung tragen, wenn es nun mit Rom in den Ring steigt. Jeder schulmeisterliche Ton bringt Salvini neue Stimmen, jede Gerade kommt doppelt zurück. Zahlen bringen mehr, nüchtern vorgetragen.
Der Wahlsieg rückt Salvini erstmals in die Verantwortung, und das ist ihm gar nicht so lieb.
Neue Schulden lasten ja wie eine Hypothek auf der Zukunft des Landes und seiner Jugend, es ist ein Jammer. Selbst italienische Banken mögen bald keine italienischen Staatsanleihen mehr kaufen, weil ihnen das Risiko zu gross ist. Geriete die drittgrösste Volkswirtschaft der Eurozone tatsächlich an den Rand einer Pleite, wie 2011, würde das den ganzen Kontinent bedrohen. Man sollte Salvini deshalb ab sofort mit an den Tisch zitieren, wenn über Milliarden und Dezimalstellen im Haushalt verhandelt wird. Schliesslich gebärdet er sich jetzt als Regierungschef und Finanzminister, schickt dann aber die bevormundeten Kollegen zu den Gipfeln. Vielleicht flöge der Bluff so schneller auf.
Der Wahlsieg rückt Salvini erstmals in die Verantwortung, und das ist ihm gar nicht so lieb. Die Cinque Stelle, seine Koalitionspartner im populistischen Kabinett, sind schnell verglüht. Salvini brauchte sie als Sparringspartner: Die waren so leichtgewichtig, dass er selber immer toll aussah. Plötzlich ist nun aber der alte Bipolarismus zurück: rechts gegen links, Salvini gegen die Sozialdemokraten, Souveränisten gegen Europäisten – der wahre Kampf.
Ein volles Jahr lang war die Linke wie benommen. Nun formiert sie sich neu, chaotisch und zerrissen wie ehedem, doch beseelt von einer neuen Dringlichkeit. Wird tatsächlich im Herbst neu gewählt, ist Eile nicht verkehrt. Und Salvini erhielte endlich die Opposition, die er verdient. Für einen Realitätscheck nach all der Propaganda.
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Showdown mit dem Schattenboxer aus Rom
Salvini stilisiert den Streit mit Brüssel über die Staatsschulden zum wahltaktischen Schaukampf.