Selfies aus fünf Jahrhunderten
Alle machen Selfies – ein Touch aufs Handy genügt. Etwas mehr Zeit investierten Künstlerinnen und Künstler, deren Selbstbildnisse aktuell im Kunstmuseum Bern zu sehen sind. «Ich im Bild» – eine Ausstellung zur menschlichen Selbstverliebtheit.

«Ich bürste mir das Haar mit einer Metallbürste in der rechten Hand und kämme mir gleichzeitig das Haar mit einem Kamm in der linken Hand. Während ich dies mache, wiederhole ich ‹Art must be beautiful, artist must be beautiful› so lange, bis ich mich in meinem Gesicht verletzt und meinem Haar geschadet habe.» So lautet die Anleitung Marina Abramovics zu einer ihrer Performances, mit denen sie Mitte der 1970er-Jahre bekannt wurde.
«Kunst muss schön sein, Künstlerin muss schön sein»: Aus einer Serie von Schwarzweiss-Stills dieser Performance zeigt das Kunstmuseum Bern in der Ausstellung «Ich im Bild» ein Exponat von grosser Wirkung. Was zugleich anzieht und abstösst, ist der physische Schmerz im halb abgewandten Gesicht der Künstlerin.
Selbstverletzung ist ein aktuelles Thema, etwa bei Teenagern, die sich die Haut ritzen, um über den Schmerz sich selbst spüren zu können. Auf den zahllosen Selfies, die sie von sich machen und via Handy in die Welt hinausschicken, zeigen Jugendliche sich allerdings selten verletzlich.
Im Gegenteil: Die Jungs grinsen oder machen auf cool, während die Mädchen ihre zum Teil aufgespritzten Lippen stereotyp zum Kussmund schürzen. Sie müssen – immer noch – schön sein, und anders als die Künstlerin scheinen sie dieses Diktat nicht zu hinterfragen.
Sich selbst ein Sexobjekt
Das Haar oder das fehlende Haar erhebt auch die Zürcher Performancepionierin Manon in einem Video von 1978 zum Weiblichkeitsindikator par excellence. In «La dame au crâne rasé» («Die Dame mit dem rasierten Schädel») inszeniert sie ihre Kahlheit als Kontrast zu ansonsten klassischen Erotik-Accessoires wie Stilettos, Lack, Leder uns so weiter.
Während ihr Kopf in der Selbstdarstellung zentral ist, verschwindet Jürgen Klauke, Vertreter der Body-Art, auf seinen Farbfotografien hinter überdimensionierten Geschlechtsteilen – männlichen wie weiblichen.
Man fühlt sich beim Betrachten dieser Bilder ausgeschlossen, denn obwohl der obszön verkleidete Künstler sich aufdrängt, ja fast aus den Bildern springen will, wird klar: Hier bespiegelt sich ein Narzisst. Er ist Sexobjekt und Voyeur zugleich, ein Publikum braucht er nicht.
Das waren die 1970er-Jahre, sagt man sich, die Zeit von Selbsterfahrungsgruppen und Plateauschuhen – nicht gerade eine Dekade des guten Geschmacks. Doch ist es nicht auch ein Merkmal der heutigen Selfie-Gesellschaft, dass alle nur sich selber zuschauen? Vor lauter Selbstdarstellung und senden, senden, senden bleibt für den Empfang von Selbstdarstellungen anderer kaum Zeit. Und auch keine Zeit, dies zu bemerken.
Nicht nur Performance, Foto- und Videokunst sind in der Berner Ausstellung zu sehen. Schliesslich trägt sie den Untertitel «Selbstbildnisse der Graphischen Sammlung aus fünf Jahrhunderten». Und erstaunlicherweise ähnelt eines der ältesten Exponate, ein Kupferstich von 1741, den heute kursierenden Selfies am meisten.
Es zeigt den niederländischen Maler Jan Maurits Quinkhard mit gepuderter Perücke vor einer Staffelei mit Selbstbildnis. Er blickt die Betrachtenden direkt an und weist dabei lässig nach hinten auf sein Werk, welches ihn deutlich geschönt darstellt. Ein ironisches Lächeln spielt um seinen Mund.

Gleich daneben lässt auch Picassos Tuschzeichnung tief blicken. Der kahlköpfige Meister stellt sich beim sichtlich lüsternen Aktzeichnen mit wallendem Haar und Hut nicht realistisch dar, sondern in einer entlarvenden Rolle: Hier ist er, der Don Juan der Maler! Schräg gegenüber trumpft der deutsche Bohemien Michael Buthe, der zeitweise in Spanien lebte, als Stier in Goldbronze auf. Ich, der Potente! Oder ich, der Gehörnte? Ich, der Todgeweihte?
Von Menschen und Mäusen
Tiere müssen oft als Stellvertreter oder symbolische Träger menschlicher Eigenschaften hinhalten, in der literarischen Fabel ebenso wie in der bildenden Kunst. Der Berner Illustrator Ernst Kreidolf etwa hat die wenig geliebten Insekten zu Helden und Heldinnen seiner Bilderbücher gemacht.
So zeigt sein kleines gemaltes Selbstbildnis von 1889 ihn zwar als ernsthaften Mann mit Vatermörderkragen, Krawatte und akkurat getrimmtem Bart, doch im Vordergrund prozessieren fröhlich Marienkäfer, Heuschrecke, Hirschkäfer und Mücke, beladen mit Rosenknospen und Kleeblättchen.
Nur Kreidolfs tief liegenden Augen, in eine unbestimmte Ferne blickend, verraten seine Sehnsucht danach, ein anderer zu sein. Es ist die Sehnsucht des zivilisierten Menschen, wieder Teil der Natur zu werden.
Die österreichische Malerin Maria Lassnig hingegen verschanzt sich vielmehr hinter einem tierischen Alter Ego. Während sie selbst, in wässrigen Pastellfarben aufs Papier gebracht, im Hintergrund fast verschwindet, fixiert im Vordergrund des Bildes eine knopfäugige Maus aufmerksam die Betrachtenden.
Welches ist nun das Selbstbildnis? Dies könnte man sich auch bei all den Selfies fragen, auf denen Menschen mit ihren Katzen, Hunden, Schlangen oder anderen Haustieren posieren.
Polaroids als Avantgarde
Interessante Fragen wirft sie auf, die Ausstellung «Ich im Bild». Sie ist nicht gross, aber vielseitig. Sie macht klar, dass das Selbstporträt ganz verschiedene Funktionen haben kann: nüchterne Selbstdarstellung, nach innen schauende Selbstbefragung, narzisstische Selbstbespiegelung, zeitgeistkonforme Selbstvermarktung.
Und tritt man am Schluss des Rundgangs an eine der beiden Vitrinen, fesselt einen die Unmittelbarkeit von Mariann Grunders Polaroids, entstanden zwischen 1989 und 2004.
Die Berner Bildhauerin nannte diese fragmentarischen Instantporträts von sich selbst «Selfs». Das ist Avantgarde. Kunst, die nicht nur schön sein will, nicht nur sich selbst zum Thema hat, sondern gesellschaftliche Entwicklungen vorwegnimmt.
Ausstellung «Ich im Bild». Graphische Sammlung im Kunstmuseum Bern, bis 2. Juni. Öffentliche Führungen: Di, 2. April (mit Kuratorin Marianne Wackernagel) und 14. Mai, 19 Uhr; So, 2. Juni, 11 Uhr.
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