Krimi der WocheSelbst Engel haben Albträume
Drei tote Wissenschaftler und ein pensionierter Kommissar, der den Tod sucht: Rabenschwarz ist die Geschichte, die der Westschweizer Yves Gaudin in «Nur die Wahrheit» erzählt.

Der erste Satz
Jeden Morgen gehe ich blind über die Strasse.
Das Buch
Emile Blanchard ist zwar pensioniert. Doch der ehemalige Pariser Kriminalkommissar findet keine Ruhe. Er ist verbittert, weil er seinen letzten Fall nicht lösen konnte. Und über die Schwierigkeiten, in die ihn der Tod seiner Mutter brachte. Jeden Morgen geht er blind über die Strasse. «Dort wird alles enden. Zermalmt. Auf der Zielgeraden. Und meine Gedärme werden ihnen in die Fresse spritzen. Eingeweide auf der Windschutzscheibe, das ist glitschig, eklig, geschieht ihnen recht, hab nie behauptet, das Leben sei lustig.»
Rabenschwarz ist die Geschichte, die der Walliser Psychologe Yves Gaudin in seinem zweiten Roman «Nur die Wahrheit» den Icherzähler Blanchard erzählen lässt. Es sei kein «Roman noir», sagte er in einem Interview, es sei das Leben, das so düster sei. Es ist auf jeden Fall ein aussergewöhnlicher Roman, der von Liebe und Tod handelt. Sowohl am Aufbau wie an der Sprache, die keine Rücksicht auf zarte Gemüter nimmt, dürften sich die Geister scheiden.
Beeindruckende Sprachkraft
Die Geschichte liefert zwar durchaus Ingredienzen für einen Thriller, bedient aber nicht die Erwartungen, die in der Regel an das Genre geknüpft sind. Zwei der Mordopfer in Blanchards letztem Fall, ein Biologe und ein Mathematiker, arbeiteten in einem Labor an Projekten, die das Leben verlängern könnten. Das dritte Opfer war ebenfalls Biologe. Alle wurden durch eine Injektion getötet, während sie Sex hatten, und ihnen wurde die Zunge herausgebissen. Es gibt eine rätselhafte Frau, die ebenfalls in dem Labor arbeitete. Geht es um Organhandel? Und spielt dabei eine hochgestellte Persönlichkeit eine Rolle?
Beeindruckend ist die Sprachkraft, die Anne Thomas überzeugend ins Deutsche übertragen hat. Auch in der Übersetzung zieht einen der sprachliche Rhythmus zeitweise fast magisch mit. Möglicherweise kommt das Rhythmische daher, dass Gaudin nicht nur Psychologe, sondern auch studierter Musiker – Diplom für Trompete vom Konservatorium Neuenburg – und Musiktherapeut ist. Zuweilen prasseln schier endlose Sätze wie ein Wasserfall aus Wörtern und Satzteilen über einen herab. Den Rekord hält ein Satz, der über fast viereinhalb Seiten geht.
Daneben gibt es auch viele kurze Sätze, die man sich als Sprüche in ein düsteres, in Schwarz gebundenes Poesiealbum schreiben könnte. Ein paar Beispiele: «Der Tod der anderen ist unsere Krankheit.» – «Das Leben ist bloss eine Kirche, erst findet man darin Zuflucht, und am Ende geht man darin verloren.» – «Selbst Engel haben Albträume.» – «Man hat nur eine wahre Liebe. Der Rest ist schmückendes Beiwerk, etwas gegen die Einsamkeit, ein kleiner Trost, nichts weiter.»
Die Wertung
Originalität ★★★★★
Spannung ★★☆☆☆
Realismus ★★★★☆
Humor ★★★☆☆
Gesamteindruck ★★★★☆
Der Autor
Yves Gaudin, geboren 1967 im Wallis, studierte Musik am Konservatorium in Neuenburg, wo er mit einem Diplom für Trompete abschloss. An der Universität im südfranzösischen Montpellier schloss er mit einem Diplom in Musiktherapie ab, an der Universität Freiburg mit einem Master in Psychologie, und an der Universität von Nizza doktorierte er in klinischer Psychopathologie. Sein erster Roman «Trop tard pour mourir» erschien 2015. «En vérité», jetzt auf Deutsch unter dem Titel «Nur die Wahrheit» herausgekommen, war 2020 sein zweiter Roman. Zurzeit praktiziert er als Musiktherapeut und Psychologe mit holistischem Ansatz in einem Therapiezentrum im Wallis. Er lebt in Sitten.

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