Sechs Wirtschaften für 1650 Bewohner
WilderswilDer Jahresabschluss ist die Zeit der Rückblicke. Interessant ist aber nicht nur zu lesen, was im vergangenen Jahr passiert ist, sondern auch, was die Behörden und Bewohner von Wilderswil vor 100 Jahren bewegt hat: ein Blick ins Gemeindearchiv.
Die eidgenössische Volkszählung war eines der grossen Themen in Wilderswil vor 100 Jahren. 1650 Einwohner zählte der Ort zum Stichtag 1.Januar 1910, 2436 sind es heute. 296 Schüler besuchten zum gleichen Zeitpunkt die Primarschule, 54 Schüler die Sekundarschule. Die Bevölkerungszahl nahm der Gemeinderat auch zur Grundlage für die Vergabe von Gastwirtschaftspatenten. Verschiedene neue Gastwirtschaftsbetriebe stellten nämlich Gesuche für eine Umwandlung ihrer Saisonwirtschaftspatente in Jahresbewilligungen. Der Rat jedoch lehnte alle diesbezüglichen Anträge mit der Begründung ab, dass sechs Jahreswirtschaften auf eine Bevölkerungszahl von 1650 mehr als genügend erscheine. Kontroverses WegverzeichnisAuf Anordnung des Kantons erstellte der Rat ein Verzeichnis mit allen Strassen, Gassen und Fuss- und Fahrwegen, die im neu einzuführenden kantonalen Grundbuch als öffentlich erklärt werden sollten. Nicht alle Wilderswiler waren mit dem definierten Wegnetz einverstanden, und so musste der Rat mit zahlreichen Weganstössern Einspracheverhandlungen führen, wie ein Blick ins Gemeindearchiv zeigt. Immer wieder gelangten Besoldungsansprüche von Gemeindefunktionären in die Ratsstube. So wurde dem Schulhausabwart Heinrich Amacher die Jahresbesoldung von 450 auf 500 Franken angepasst und dem Landjäger Dellsperger eine jährliche Entschädigung von 100 Franken für Gemeindepolizeidienste zugesprochen. Schützen trennen sich ab Zu 23 Sitzungen kamen die Wilderswiler Einwohnergemeinderäte im Jahre 1910 im alten Schulhaus, das es heute nicht mehr gibt, zusammen und behandelten 142 Traktanden. Die fünf Gemeindeversammlungen fanden ebenfalls im alten Schulhaus statt und waren mit jeweils rund 100 Männern besser besucht als heute. Die Frauen hatten damals noch keinen Zutritt. Gemeindepräsident war der Landwirt Johann Vögeli, und als Gemeindeschreiber wirkte Heinrich Heim. In einer Sitzung nahm der Rat Kenntnis von der Neugründung der Freischützengesellschaft Wilderswil, die sich von den Feldschützen trennten. Den beiden Schützengesellschaften wurde nahegelegt, sich über das vorhandene Inventar und Vermögen gütlich zu einigen. Säumige Stromkunden Weiter vernimmt man aus den Ratsprotokollen, dass zahlreiche Strombezüger, die ihre Liegenschaft an das kürzlich eingeführte elektrische Verteilnetz angeschlossen hatten, trotz Mahnungen die Stromrechnungen nicht bezahlten. Ihnen wurde damit gedroht, die Zufuhr der elektrischen Energie wieder zu kappen. Viel Zeit verwendeten die Gemeindeväter vor 100 Jahren an den Sitzungen mit Vormundschaftsgeschäften, dem Schlichten von Streitigkeiten und dem Erledigen von allerlei Reklamationen. Ganz seltsam mutet es heute an, dass der Gemeinderat damals mehrmals gegen Paare, die im Konkubinat (in wilder Ehe) lebten, Anzeige erstatten musste. Das Verbot des Konkubinats wurde erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgehoben. MarchstreitigkeitenZahlreich sind Eintragungen in den Protokollen über Marchstreitigkeiten, was kaum verwundert, da Planunterlagen und amtliche Vermessungen vor hundert Jahren in Wilderswil noch fehlten. Bei den meisten Händeln konnte der Rat den Gang zum Richter verhindern und für alle Betroffenen annehmbare Lösungen finden. Abschied von Lili WachAm 15.Oktober 1910 starb auf dem Ried ob Wilderswil Lili Wach, die jüngste Tochter des deutschen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1805 bis 1847). Da die Verstorbene im Dorf als grosse Wohltäterin bekannt war, begleiteten Behörden und die ganze Bevölkerung die sterbliche Hülle auf den Friedhof Gsteig zur letzten Ruhe. Beim Tod ihres Vaters 1847 zählte Lili erst zwei Jahre. Sie war es aber, die später mit ihrem Mann zusammen den künstlerischen Nachlass Mendelssohns verwaltete. Unzählige Kompositionen, Briefe, Zeichnungen und Gemälde blieben über Jahrzehnte im Sommersitz der Familie Wach auf dem Ried aufbewahrt. Heinz Bischoff/jez>
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