Schweizer Wein für Dmitri Medwedew
Der Berner Dölf Michel betreibt seit 20 Jahren ein Feinschmecker-Restaurant im Herzen Moskaus. Jelzin liess sich von ihm bewirten, später Putin und Medwedew. Michels Erfolgsrezept: «Bei mir kriegt keiner eine Extrawurst.»

Es ist eine der besten Adressen der Stadt: das «Café des Artistes» des Berner Gastronomen Dölf Michel, im Kamergerskij Pereulok, der Kammerherrengasse hinter dem Parlamentsgebäude. Hier treffen sich Künstler zu Champagner und Kaviar, Oligarchen und Duma-Abgeordnete zur St.Galler Bratwurst und den neusten politischen Gerüchten. Expräsident Boris Jelzin war schon da und Wladimir Putin. Und dann war da auch dieser Mann, der – «es muss Ende 2007 gewesen sein» – jeweils mit Gazprom-Managern an einem Tisch im zweiten Stock bei einer Flasche Tessiner Weisswein sass. Niemand achtete auf ihn. Unscheinbar sei er gewesen, mit einem Lausbubengesicht, «aber vor allem auffallend klein», erinnern sich die Kellner. «Aber angenehm und überhaupt nicht abgehoben.» «Dass es sich bei dem Gast Dmitri Medwedew handelte, realisierten wir erst viel später», sagt Dölf Michel. Ein halbes Jahr später, bei den Wahlen am 2.März 2008, wurde der unscheinbare, kleine Herr zum Präsidenten des grössten Landes der Welt gewählt.
Nach dem Höhenflug
Dass es Michel nach Moskau verschlug und dass er da quasi in den inneren Zirkel des Kremls eindringen konnte, das sei alles «reiner Zufall», sagt der 57-jährige Michel aus Meiringen. «Ich wurde 1990 gefragt, ob ich beim Kremlin-Cup, einem Tennisturnier zu Ehren Jelzins, das Catering mitorganisieren könnte, und sagte aus Blödsinn zu.» Aus dem geplanten dreiwöchigen Job in Russland wurden 20 Jahre, ein stadtbekanntes Restaurant, die Erfüllung eines Lebenstraums.
«Vieles hat sich seit damals rasant verändert», sagt Michel, während er den Blick über die Boutiquen in der Fussgängerzone wandern lässt. «Als ich mich in Moskau niederliess, war die Armut in der Stadt noch enorm.» Doch dann habe das Land, insbesondere im Nachgang zur Rubelkrise 1998, einen beispiellosen Boom erlebt, mit Wachstumsraten von teilweise über 7 Prozent. Hohe Ölpreise und billige Kredite aus dem Westen blähten den Konsum auf. Autos, Uhren, Schmuck, Häuser: Wer konnte, der kaufte und zeigte, was er gekauft hatte. Das Land schwelgte im Wachstumsrausch. Und die Preise trieben die kuriosesten Blüten. Mittlerweile kostet eine Tasse Kaffee im Zentrum Moskaus bis zu zehn Franken. «Und der Mietpreis, den ich für das Restaurant bezahle, ist heute siebenmal höher als noch im Jahr 2000», so Michel. Mittlerweile fresse ihm die Rechnung den ganzen Gewinn weg.
Der grosse Absturz
Trotzdem: Klagen will er nicht. «Seit ich in Russland lebe, ist das Leben hier jeden Tage besser geworden», sagt er. Ausser vielleicht im letzten Jahr. Bis dahin hiess es an den Tischen im Café, Russland werde von der Wirtschaftskrise verschont. Die Krise, das sei das Problem des Westens. Der Schock kam dann umso heftiger. Das russische Wirtschaftswunder sackte in sich zusammen. 10 Prozent minus. Der Rubel verlor innert einem halben Jahr über 30 Prozent an Wert. Ab November begann die Krise auch auf die Realwirtschaft durchzuschlagen. Erst traf es den Bau- und Immobiliensektor, die Autoindustrie und die Energiebranche, später den Maschinenbau sowie die Luxusgüter. Das spürt man auch im «Café des Artistes». Heute kriegt man auch ohne Reservation einen Tisch. «Die fetten Jahre sind vorbei», konstatiert Dölf Michel. «Plötzlich kommen ein, zwei Flaschen Wein weniger auf den Tisch.» Und der Château Cheval Blanc, St-Emilion, wird kaum noch bestellt. Anlässe, die mit einer Flasche zu 1605 Euro gefeiert werden, sind selten geworden. «Insgesamt», fasst Michel zusammen, sei der Umsatz im Restaurant um 10 Prozent eingebrochen, das Catering um 50 und die Menübestellungen für Businessflieger gar um 60 Prozent. Doch Restaurantbetreiber Michel erlebt nicht die erste Krise in Russland und nimmts gelassen. Er weiss: «Irgendwann wird es wieder aufwärtsgehen.»
«In Russland ist noch immer alles möglich», sagt Dölf Michel. Es gibt viel Geld und viel Nachholbedarf. Wer gut geschäftet, kann es im wilden Osten zu viel bringen. Zurück in die Schweiz möchte Michel jedenfalls nicht. Und doch gibt es etwas, was ihm sauer aufstösst: die Bürokratie und Rechtsunsicherheit in Russland. «Ein Dutzend Mal musste ich mit meinem Geschäft anfänglich umziehen», klagt er. Weil die Mietverträge nicht verlängert wurden etwa. Um Lebensmittel zu importieren, müssen korrupte Zöllner geschmiert, und um einen Umbau zu realisieren, zahllose Anträge gestellt werden. Schlendrian und Willkür bringen Westler wie Michel oft an den Rand der Verzweiflung. «In den letzten sechs bis acht Jahren ist es wirklich schlimm geworden», sagt Michel. Im Korruptionsindex steht Russland von insgesamt 179 bewerteten Ländern zusammen mit Bangladesch auf Platz 147. «Immerhin hat Medwedew nun beide Probleme öffentlich angesprochen und versprochen, dagegen vorzugehen.» Dass den Worten auch Taten folgen werden, daran hätten die Moskauer freilich Zweifel. «Doch die Russen sind Künstler im Umgang mit solchen Schwierigkeiten.» Und Michel ist mittlerweile einer von ihnen.
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