Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat ist akut gefährdet
Seit sieben Jahren weibeln Bundesräte und Diplomaten in der ganzen Welt für Einsitz im mächtigsten UNO-Gremium. Doch jetzt wird überraschender Widerstand laut.

Die Schweiz soll im mächtigsten UNO-Gremium Einsitz nehmen. Das ist für Schweizer Diplomaten eine der wichtigsten Missionen. Seit Jahren betreiben sie rund um den Erdball «Wahlgeschäfte» oder «Tauschgeschäfte», wie sie es nennen. Konkret: Unterstützt die Schweiz einen anderen Staat bei einem Vorstoss in einem internationalen Gremium oder gibt sie Geld für ein Projekt, erinnern die Schweizer Diplomaten stets freundlich, aber bestimmt: «Wir kandidieren 2022 für den UNO-Sicherheitsrat. Es wäre schön, wenn Ihr Staat uns dann seine Stimme gäbe.»
Und obwohl die Wahl in der UNO-Generalversammlung erst in vier Jahren stattfindet, ist das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bereits heute daran, am UNO-Sitz in New York eine offizielle Wahlkampagne vorzubereiten. Erwartet wird zudem, dass Aussenminister Ignazio Cassis bald einen Sonderbotschafter ernennt, um die Werbung für die Kandidatur zu verstärken. Und die Chancen, dass die Schweiz ab 2023 tatsächlich für zwei Jahre in den Rat einzieht, stehen gut: Für die zwei Sitze Westeuropas gibt es derzeit erst zwei Kandidaten: Malta und die Schweiz.
Doch jetzt zeigen Recherchen von Redaktion Tamedia: Es ist höchst ungewiss, ob die Schweiz 2022 überhaupt noch Kandidatin sein wird. Denn der Plan hat im Bundeshaus dramatisch an politischem Rückhalt verloren. Als der Bundesrat die Kandidatur im Jahr 2011 beschloss, opponierte nur die SVP fundamental. Doch inzwischen gibt es in den Mitteparteien derart viel Kritik, dass Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP, BL), Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission (APK) des Nationalrats, zweifelt, «dass eine Mehrheit der Bundesparlamentarier nach wie vor hinter der Kandidatur steht». FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (ZH) schätzt aufgrund zahlreicher Gespräche, dass die CVP-Fraktion gespalten sei, während eine knappe Mehrheit der FDP-Fraktion gegen die Kandidatur sei – eine Einschätzung, die andere Parlamentarier teilen. Damit dürfte eine Kandidatur im Parlament derzeit eine Mehrheit verfehlen.
Calmy-Reys Erbe
Bis jetzt hat das Bundesparlament nie über die Kandidatur abgestimmt. Der Bundesrat fällte den Entscheid 2011 in eigener Kompetenz, noch unter der Ägide von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (SP). Zuvor hatte die Regierung die Aussenpolitischen Kommissionen des National- und des Ständerats konsultiert, die sich klar – mit 16:6 beziehungsweise 10:1 Stimmen – für die Kandidatur aussprachen. Darauf beantragte die SVP im Nationalrat, dass das ganze Parlament darüber abstimmen müsse, fand aber nicht einmal für diese Forderung eine Mehrheit. Seither glaubten die Diplomaten im EDA, das Thema Sicherheitsrat sei für sie innenpolitisch erledigt – ein grosser Irrtum, wie sich jetzt zeigt.
Eine treibende Kraft bei den Kritikern ist Hans-Peter Portmann, der die FDP-Deputation in der nationalrätlichen APK anführt. In der Kommission hat Portmann jüngst Fragen eingereicht. Unter anderem will er von Aussenminister Ignazio Cassis wissen, ob er gedenke, die Kandidatur doch noch dem Parlament vorzulegen. Portmann stellt sogar die Grundsatzfrage: Ob der Bundesrat bereit wäre, die Kandidatur zurückzuziehen. Auf Anfrage sagt Portmann, er sei sicher, dass es im Parlament demnächst neue Vorstösse gegen die Kandidatur geben werde. «Darum ist der Bundesrat gut beraten, wenn er die Sache von sich aus dem Parlament vorlegt.» Im Bundeshaus kursieren sogar Informationen, wonach Cassis bereits entschieden haben soll, das Parlament nachträglich abstimmen zu lassen. Dies wird aber von Cassis' Informationschef Jean-Marc Crevoisier vehement dementiert. Cassis vertrete die bisherige Position des Bundesrats und des Parlaments, das seinerzeit einen Parlamentsentscheid in dieser Frage abgelehnt habe.
«Wir müssen nun rasch klare Verhältnisse schaffen und klare Zeichen zur Schweizer UNO-Mission in New York senden.»
Richtig sei einzig, dass Cassis den Gesamtbundesrat noch im Herbst in einem Aussprachepapier über den neusten Stand in diesem Dossier informieren werde. Derweil begründen die Kritiker der Kandidatur ihre Vorbehalte damit, dass sich die Welt seit 2011 massiv verändert habe. «US-Präsident Trump war damals noch nicht auf der politischen Bühne», sagt Schneider-Schneiter. Auch das Versagen des Sicherheitsrats im Syrienkrieg sei erst später gekommen. «Wir müssen nun rasch klare Verhältnisse schaffen und klare Zeichen zur Schweizer UNO-Mission in New York senden», sagt Schneider-Schneiter – und prognostiziert gleichzeitig: «Es wird schwierig werden, im Parlament eine Mehrheit für die Kandidatur zu finden.»
Schneider-Schneiters Parteichef zählt nicht zu einer solchen Mehrheit. «Ich war persönlich immer gegen die Kandidatur», sagt Gerhard Pfister. Eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat, wo die Schweiz an hochpolitischen Entscheiden mitwirken müsste, bringe sie «neutralitätspolitisch in Teufels Küche». Und selbst Exponenten des linken Parteiflügels sind mit Pfister einig. «Ich war wegen der Kandidatur immer skeptisch und bin es immer noch», sagt Nationalrätin Kathy Riklin (ZH). «Schon die Abstimmung über den UNO-Beitritt war eine Zitterpartie.» Nun dürfe man das Vertrauen der Bevölkerung nicht verspielen mit einem Beitritt zum Sicherheitsrat.
Spielball der Weltpolitik
FDP-Nationalrat Portmann sagt, zentral sei für ihn vorerst, dass sich das Parlament über die Kandidatur äussern könne. Doch er macht auch klar, dass er selber aus heutiger Sicht Nein stimmen würde. Portmann warnt, dass die Schweiz im Sicherheitsrat zum «Spielball der Weltpolitik» würde und dass jeder Entscheid des Rats anschliessend zu einer Kontroverse im Bundesparlament führen würde.
Auch viele FDP-Ständeräte seien gegenüber der Kandidatur «kritisch» eingestellt, sagen Philipp Müller (AG) und Damian Müller (LU). Das Versagen des Sicherheitsrats in Syrien und bei der Krim-Annexion habe bei ihm und vielen Kollegen zu einem Umdenken geführt, sagt Philipp Müller. Damian Müller betont, die internationale Rolle der Schweiz bestehe in der diskreten Vermittlung. Im Sicherheitsrat müsste sie aber in internationalen Konflikten Position beziehen. «Damit wäre ihre Rolle als Vermittlerin akut gefährdet.»
All diese Argumente werden aufs Tapet kommen, wenn Aussenminister Ignazio Cassis das Dossier in den Bundesrat tragen wird – und nicht nur dort: Denn auch in den Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte ist das Thema noch in diesem Jahr traktandiert. Solche Aussprachen, ob in der Regierung oder in den Kommissionen, können direkt in politische Vorstösse und Anträge führen – im Extremfall für einen Abbruch der Kandidatur.
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