Mehr Anträge, mehr BewilligungenSchweizer bewaffnen sich – und niemand weiss, wofür
Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs schnellt die Nachfrage nach Waffenerwerbsscheinen in die Höhe. Über die Gesuchstellenden und ihre Motivation ist den Behörden allerdings kaum etwas bekannt.

Wer ein Ticket bucht oder eine Online-Bestellung macht, muss oft eine ganze Reihe von persönlichen Daten angeben. Ein Sternchen am Ende der Formularfelder zeigt an, welche Angaben auf keinen Fall ausgelassen werden dürfen.
Anders auf dem Formular, das bei den kantonalen Behörden einreichen muss, wer einen Waffenerwerbsschein erlangen will: Die persönlichen Angaben finden auf einer halben Seite Platz, die Motivation des Waffenkaufs muss nicht zwingend erläutert werden.
Zwar trägt ein Feld die Bezeichnung «Erwerbsgrund». Allerdings muss dieses nur ausgefüllt werden, wenn die Waffe nicht für «Sport-, Jagd- oder Sammelzwecke» vorgesehen ist. Die meisten Gesuchsteller lassen die Zeile leer.
Die Verantwortlichen bei den Kantonspolizeien und beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) können deshalb nur mutmassen, was hinter einer neuen Entwicklung steckt, die in diesen Tagen für Aufsehen sorgt.
Run auf Waffenerwerbsscheine
Wie SRF am Donnerstag berichtete, hat die Nachfrage nach Waffenerwerbsscheinen seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs in mehreren Regionen der Schweiz markant zugenommen. In der Stadt Zürich hat sich die Anzahl der Gesuche gegenüber dem Vorjahresquartal fast verdoppelt. Der Kanton Aargau verzeichnet ein sattes Plus von 60 Prozent, auch in der Stadt Winterthur und im Kanton St. Gallen ist die Zunahme deutlich.
Nationale Zahlen existieren nicht – weder das Fedpol noch die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren führen eine entsprechende Statistik. Und auch bei den einzelnen Kantonen sind auf Nachfrage wenig weiterführende Informationen erhältlich.
Florian Schneider, Sprecher der Kantonspolizei St. Gallen, sagt: «Im Einzelfall werden die Beweggründe im Zuge der Abklärungen schon thematisiert. Aber eine separate statistische Erfassung findet nicht statt.» Anekdotisch lasse sich sagen, dass viele mit einer bestehenden oder geplanten Mitgliedschaft bei einem Sportschützenverein argumentieren. «Wobei teilweise gleichzeitig mitschwingt: Wenn ich eine Waffe zu Hause habe, kann ich mich im Notfall auch selber verteidigen.»
«Die Leute sehen, dass in Europa Zivilisten brutal umgebracht werden.»
Daniel Wyss, Präsident des Büchsenmacherverbands und Geschäftsleiter von Wyss Waffen in Burgdorf, kennt seine Kunden gut. Hat er eine Erklärung für die Entwicklung? Am Telefon sagt er: «Der Ukraine-Krieg und das daraus resultierende Unsicherheitsgefühl mögen ein Faktor sein. Die Leute sehen, dass in Europa Zivilisten brutal umgebracht werden. Bei Einzelnen weckt dies das Bedürfnis, sich zu bewaffnen, sollte ein ähnliches Szenario in der Schweiz eintreten.»
Allerdings gebe es auch weitaus trivialere Gründe. So seien beispielsweise in den Kantonen Zürich und St. Gallen zuletzt mehrere Indoor-Schiessanlagen neu eröffnet worden. «Damit gibt es mehr Nachwuchs bei den Sportschützen – eine höhere Nachfrage nach Waffenerwebsscheinen wäre die logische Folge.»
Laut Wyss ist der Schiesssport in den letzten Jahren moderner geworden, damit spreche er neue Bevölkerungsgruppen an: «Gefragt sind heute Parcours in Indoor-Anlagen. Man ist dort ständig in Bewegung, während man auf Ziele – runde Scheiben oder geometrische Formen – schiesst.» Das liegende Schiessen über 50 oder 300 Meter komme hingegen eher aus der Mode.
Schliesslich, sagt Wyss, hinke der Vergleich mit dem Vorjahr ein wenig. So seien während der Pandemie vermutlich weniger Waffen verkauft worden. Wie es bei ausgewählten Kantonspolizeien auf Anfrage heisst, war die Zahl der Gesuche im ersten Quartal 2022 aber auch verglichen mit anderen Jahren hoch. Lediglich 2019, bevor das revidierte Waffengesetz in Kraft trat, waren ähnliche Ausschläge in der Statistik zu beobachten – offenbar wollten sich damals viele vor Einführung der neuen Regeln noch einen Waffenerwerbsschein sichern.
Die meisten Gesuche werden von den kantonalen Behörden bewilligt. Die Ablehnungsquote beträgt in den angefragten Kantonen rund 5 bis 10 Prozent – oft sind in diesen Fällen Vorstrafen ausschlaggebend.
«Wir müssen die Motivation der Gesuchsteller kennen.»
Für Chantal Galladé, die im nationalen Parlament jahrelang für eine rigidere Schusswaffenpolitik kämpfte, sind die fehlenden Statistiken ein grosses Versäumnis. «Um sinnvolle Präventionsarbeit machen zu können, müssen wir die Motivation der Gesuchsteller kennen», so die einstige SP-Nationalrätin und heutige GLP-Politikerin.
2016 etwa hatte Galladé im Nationalrat erfolglos verlangt, dass nur noch Personen einen Waffenerwerbsschein erhalten, «die dafür ein Bedürfnis nachweisen können». Galladé fordert, dass das Thema nun wieder auf die Agenda kommt. «In Zeiten, in denen der Impfchef von einem Bewaffneten entführt wird und extremistische Gruppen in der Schweiz Schlagzeilen machen, ist es im Interesse aller, hier für mehr Sicherheit und Transparenz zu sorgen.»
«Den Schusswaffenbesitz weiter einzuschränken, halte ich für falsch.»
Gegen eine Verschärfung wehrt sich der Berner SVP-Ständerat Werner Salzmann. Er hat Verständnis dafür, wenn sich Schweizerinnen und Schweizer bewaffnen, um ihr Sicherheitsgefühl zu erhöhen und sich im Notfall selbst verteidigen zu können. Er sagt: «Studien aus den USA zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, deutlich kleiner ist, wenn man über eine Schusswaffe verfügt.»
Salzmann würde es begrüssen, wenn dieser Zusammenhang auch in der Schweiz erforscht würde. «Den Schusswaffenbesitz aus ideologischen Gründen zu verteufeln und weiter einzuschränken, halte ich für falsch.»
Als Reaktion auf Änderungen der EU-Waffenrichtlinie hat die Schweiz ihr Waffengesetz in den letzten Jahren mehrfach punktuell verschärft. Wann in der Europäischen Union die nächste Revision ansteht, ist laut Fedpol noch unklar. Zwar liegt bereits seit einigen Monaten ein neuer Evaluationsbericht der EU-Kommission zum Thema vor. Dieser identifiziere allerdings vor allem Verbesserungspotenzial in Punkten, welche die Schweiz bereits gesetzlich geregelt habe, so Fedpol-Sprecher Christoph Gnägi.
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