«Kinder sind in einem Krieg die verletzlichste Gruppe»
Die frühere dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt leitet heute die Kinderrechtsorganisation Save the Children. Am WEF will sie die Politiker und Wirtschaftsführer dazu bringen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Sie sind in diesem Jahr eine der Co-Vorsitzenden des WEF. Wieso haben Sie als Chefin einer Kinderrechtsorganisation diesen Posten angenommen?Helle Thorning-Schmidt: Das Motto des diesjährigen WEF «Anpassungsfähige und verantwortungsvolle Führung» ist für mich überzeugend. Damit wir erstens anpassungsfähig sein können, müssen wir zuhören. Das Jahr 2016 hat gezeigt, dass wir den Menschen, die mit der Globalisierung nicht zufrieden sind, besser hätten zuhören sollen. Für mich noch wichtiger ist zweitens, dass wir verantwortungsvoll handeln. Keiner der hier versammelten Politiker und Manager soll Davos verlassen, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun muss, um seiner Verantwortung gerecht zu werden.
Wie meinen Sie das?Es geht darum, dass sie sich alle die UNO-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung in Erinnerung rufen und danach handeln. Jeder soll sich fragen: «Wie kann ich oder meine Organisation am besten zur Umsetzung dieser 17 Ziele beitragen?» Für mich als Chefin einer Kinderrechtsorganisation, die sich genau dafür einsetzt, war das der Grund für die Teilnahme am WEF.
«2016 hat gezeigt, dass wir den Menschen, die mit der Globalisierung nicht zufrieden sind, besser hätten zuhören sollen.»
Wie wollen Sie die anderen Teilnehmer dazu bringen?Ich werde die Zahlen sprechen lassen: Derzeit leben 350 Millionen Menschen in extremer Armut. Wir haben den Kindern dieser Welt versprochen, dass es bis 2030 keine extreme Armut mehr gibt. Nach aktuellen Schätzungen werden dann aber immer noch 160 Millionen Menschen extrem arm sein, sodass wir das Ziel nicht erreichen werden. Das muss ein Weckruf für uns alle sein. Wir haben nicht nur die moralische Verpflichtung, das zu ändern. Es gibt auch ein strategisches Argument dafür.
Inwiefern?Wir müssen uns fragen, was es für die Zukunft bedeutet, wenn so viele Kinder in Armut aufwachsen oder vor Krieg flüchten müssen oder keine Ausbildung machen können. Das dürfte gravierende Konsequenzen haben. Deshalb will ich diese Frage auf die WEF-Agenda setzen. Ich bin zuversichtlich, dass mir das gelingen wird. Denn jeder kann sich mit dem Schicksal von Kindern identifizieren.
Sind Sie auch hier, um Spenden zu sammeln?Nein. Viel wichtiger ist mir, die anwesenden Unternehmensführer dazu zu bringen, sich zu überlegen, was sie konkret tun können. Daraus ergeben sich dann hoffentlich weitere Kooperationen, wie wir sie schon mit zahlreichen Unternehmen geschlossen haben, um Kindern zu helfen.
Können Sie ein Beispiel geben?Ja. Mit dem Luxusgüterhersteller Bulgari sind wir eine fünfjährige Partnerschaft eingegangen mit der Absicht, in dem grossen Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien Kinder zu unterrichten. Das ist ein konkreter Beitrag zur Erreichung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Es geht nicht nur darum, dass die Unternehmen einen Check ausstellen. Sie sollen auch ihr spezifisches Know-how einbringen können. Deshalb sind wir etwa für eine Impfkampagne eine Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline eingegangen.
«Es war extrem inspirierend, zu sehen, wie viel Hoffnung ein wenig Bildung vermitteln kann.»
Sie leiten die Kinderrechtsorganisation Save the Children seit April 2016. Was waren Ihre eindrücklichsten Erlebnisse?Ich war in Äthiopien, wo während der letzten Trockenzeit eine Hungersnot drohte. Eine Mutter kam direkt auf mich zu und erzählte mir, dass ihre fünf Kinder ohne unsere Hilfe nicht überlebt hätten. Beeindruckt haben mich auch die 13-jährigen Mädchen, die in einem Slum von Freetown in Sierra Leone eine unserer Schulen besuchen und davon erzählten, was sie später einmal werden möchten. Es war extrem inspirierend zu sehen, wie viel Hoffnung ein wenig Bildung vermitteln kann. Das Gleiche gilt für die Mädchen in einem Dorf im indischen Bundesstaat Bihar, wo wir uns gegen Kinderhochzeiten wehren.
Was konnte Ihr Hilfswerk im Krieg in Syrien ausrichten?In Aleppo und anderen Regionen in Syrien wirken wir durch unsere lokal verankerten Partnerorganisationen. Beispiele sind die Verteilung von Lebensmitteln sowie die ärztliche Versorgung.
Besteht nicht die Gefahr, dass humanitäre Organisationen dem Assad-Regime in die Hand spielen?Das Problem in Syrien besteht darin, dass die Gebiete, wo humanitäre Organisationen ihre Arbeit ausführen können, sehr begrenzt sind. Unsere Partner berichten uns, dass sie im vergangenen Jahr bei ihrer Arbeit absichtlich angegriffen worden sind. Auch Gebäude, die selbst in einem Krieg sicher sein sollten wie Spitäler, Schulen und Kirchen sind gezielt angegriffen worden. Aus diesem Grund setzen wir bei unserer Arbeit auch einen Schwerpunkt auf Kinder in Kriegsgebieten. Denn die Kinder sind in einem Krieg die verletzlichste Gruppe.
«Und wenn so viele Kinder leiden, ist das keine gute Basis dazu, die Welt sicherer und gerechter zu machen.»
Ein Drittel Ihres Budgets von 2,1 Milliarden stammt von Zuschüssen der US-Regierung. Befürchten Sie, dass Donald Trump diesen Beitrag kürzen wird?Wir wissen nicht, was die Regierung von Donald Trump tun wird. Ich bin trotz allem zuversichtlich. In dieser Welt gibt es so viele Gräben, welche die Menschen trennen. Ich denke aber, dass es beim Thema Kinder möglich ist, eine Brücke zu schlagen. Viele Kinder leben in grosser Armut und wachsen ohne Bildung auf. Viele von ihnen müssen wegen eines Kriegs ihr Land verlassen. Was ist das für eine Welt! Und wenn so viele Kinder leiden, ist das keine gute Basis dazu, die Welt sicherer und gerechter zu machen. Ich glaube, dass auch die Trump-Regierung diese Meinung teilt und für Kinder etwas tun will.
Sind Sie da nicht etwas zweckoptimistisch? Trump hat sich öfter kritisch über die Zahlung von Entwicklungshilfegelderngeäussert.Die Vereinigten Staaten haben in der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe eine grosse Tradition. Sie sind mit Abstand der grösste Geldgeber in diesem Bereich. Das ist ein grosses Vermächtnis, das hoffentlich für jede US-Regierung auch eine Verpflichtung ist.
Die Wahl von Donald Trump ist ein weiteres Beispiel für den Erfolg, den Populisten in vielen Ländern feiern können. Was ist für Sie als Ex-Regierungschefin von Dänemark der Grund dafür?Da kommen wir zurück zum Weltwirtschaftsforum. In der Globalisierung gibt es Gewinner und Verlierer. Die Teilnehmer hier in Davos müssen an einer Übereinkunft arbeiten, wie die Globalisierung sozial ausgestaltet werden kann. Diese Vereinbarung muss dafür sorgen, dass die Globalisierung zum Vorteil von allen ist. Dabei stehen für mich die benachteiligten Kinder im Vordergrund.
«Natürlich müssen wir zwischen Flüchtlingen und Einwanderern unterscheiden.»
Populisten profitieren auch davon, dass viele Bürger in Europa sich Sorgen machen, wenn sie die Menschen aus Afrika und Asien sehen, die nach Europa kommen. Wie kann die Politik hier reagieren?Zunächst sollten wir uns bewusst sein, dass über 80 Prozent aller Flüchtlinge in Entwicklungsländern leben. Die grosse Mehrheit der Flüchtlinge kommt nicht zu uns. Zugleich sind die Länder in Europa gefordert, viel enger zusammenzuarbeiten. So braucht es eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf die europäischen Länder. Wir dürfen die Last nicht einfach ein paar Ländern überlassen.
Aber lange nicht alle Einwanderer sind verfolgte Flüchtlinge. Viele suchen ein besseres Leben.Das ist ein anderes Thema. Natürlich müssen wir zwischen Flüchtlingen und Einwanderern unterscheiden. Und die europäischen Länder haben das Recht, ihre Grenzen zu schützen. Dennoch ist der entscheidende Punkt, dass die europäischen Länder bei diesen Fragen viel enger kooperieren sollten. Leider waren die Länder Europas hier bislang nicht sehr erfolgreich.
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