Das dritte Argument: All die Probleme, die Wohnungsnot in den Städten, die vollen Strassen und Züge, die Zersiedelung seien nicht nur auf die Zuwanderung zurückzuführen, sondern zum Teil hausgemacht. «Wir verbrauchen mehr Wohnraum, pendeln öfter, kaufen häufiger Wohneigentum als früher.» Dies bedeute, dass die Schweiz es selber in der Hand habe, die Probleme zu lösen.
Applaus tost. Dann folgen die Voten aus dem Publikum, sie sind sehr kritisch. Ein Zuhörer lamentiert minutenlang darüber, dass es zu viele Ausländer gebe. Die Situation in den Schulen sei äusserst angespannt, was ihm Angst mache. «Was ist Ihre Frage?», will die Moderatorin wissen. «Wie viel ist genug?», ruft er. Andere Voten bemängeln das Konzept des unbegrenzten Wachstums und kritisieren die Wirtschaft. Diese werde von Steuern entlastet, übernehme aber keine Verantwortung. Trotzdem. Mehrere bekennen, dass sie der Initiative ursprünglich Sympathie entgegengebracht haben, nun aber Nein stimmen würden. Das Anliegen sei richtig, die bürokratische Kontingentierung wohl doch nicht der richtige Weg.
Widnau: Die Trotzigen fehlen
Widnau im St. Galler Rheintal. Freitagnachmittag. Simonetta Sommaruga spricht am lokalen Wirtschaftsforum. Über 700 Menschen, vor allem KMU-Chefs, hören zu. Im Rheintal zeigt sich die Zerrissenheit zwischen Heimat- und Wirtschaftsschutz besonders deutlich. 35 bis 40 Prozent der Wähler halten zur SVP. Gleichzeitig produzieren hier zahlreiche international tätige Industrieunternehmen. Sie brauchen dringend Fachkräfte, ohne Mitarbeiter aus dem Ausland könnten sie kaum überleben. Die Region grenzt ausserdem an Österreich und Deutschland, Grenzgänger gehören zum Alltag.
Die Dreifachturnhalle ist zum Konferenzsaal umgerüstet. Neben Kletterstangen übt sich Sommaruga in Selbstkritik. Zu lange habe der Bundesrat die Zuwanderung nur positiv dargestellt. Die Rede folgt dem bekannten Muster: Betonung des wirtschaftlichen Erfolgs, der Hinweis auf die Schweizer als Problemverursacher, das Vertrauen, dass sich die Lebensqualität bewahren lasse.
Verhaltener Applaus. Der Philosoph David Precht, der als Sommarugas Vorredner zur Revolution des Bildungssystems aufrief, weckte mehr Begeisterung. Verständlich. Die Bundesrätin sagte, was die geschalten, mittelalten Männer sowieso denken. Am folgenden Apéro geben alle Angefragten an, Nein zu stimmen. Mit einem Ja würden sie sich nur selber schaden. Vielleicht schummeln einige: Immerhin hat der St. Galler Gewerbeverband so überraschend wie deutlich die Ja-Parole herausgegeben. Auch repräsentativ scheint die breite Zustimmung nicht. Er gehe von einem knappen Ja aus, sagt einer. Die Rheintaler reagierten eher zurückhaltend auf Fremde. Viele stimmten aus Trotz das Gegenteil von dem, was die Politiker im weit entfernten Bern empfehlen. Doch die Unzufriedenen, die in Leserbriefen schreiben, dass auf Rheintaler Strassen New Yorker Zustände herrschen, sind nicht ans Wirtschaftsforum geladen. Sie hat Sommaruga nicht erreicht.
Dennoch. Es sieht gut aus für die Bundesrätin. Es scheint, als würden viele ihren Argumenten folgen, das Unbehagen hinunterschlucken. Weil sie den wirtschaftlichen Knick fürchten. Weil sie lieber auf unverbaute Landschaft als auf eine Eigentumswohnung verzichten. Weil sie eher im Stau stehen, als weniger zu verdienen. Eigennutz zählt mehr als die Lust, ein Zeichen zu setzen.