«Sogar die Opposition in der Türkei lehnt Auftrittsverbote ab»
Der türkische Aussenminister und der Vizepräsident von Erdogans Regierungspartei wollen in der Schweiz reden. Der Bundesrat will sie gewähren lassen. Türkei-Experte Christoph Ramm ist derselben Meinung.

Der türkische Aussenminister Cavusoglu und der Vizepräsident von Erdogans Regierungspartei AKP, Huslit Yildirim, tingeln vor der Abstimmung in der Türkei werbend durch Europa. Worum geht es den beiden Politikern eigentlich?Christoph Ramm:Die Tour dieser Politiker hat vor allem zwei Ziele. Das eine ist innenpolitisch. Sie wollen die Stimmbürger zu Hause für das bevorstehende Referendum für ein Ja zum Präsidialsystem mobilisieren. Sie wollen ihnen zeigen, dass man Europa die Stirn bietet in der gegenwärtig angespannten Situation, die im Verbot von einzelnen Veranstaltungen gipfelte. Das zweite Ziel sind die stimmberechtigten türkischen Staatsbürger in Europa, die man ebenfalls gewinnen möchte.
Das sind diese drei Millionen Türken in Deutschland, die vor allem zählen, oder?Noch anderthalb Millionen davon haben einen türkischen Pass, um diese geht es vor allem. Die Prognosen für das Referendum vom 16. April sind sehr knapp. Das heisst, die AKP ist stark auf die ausländischen Stimmbürger angewiesen. Zumal sie 2015 in Deutschland sehr stark abgeschnitten hat.

Bis vor kurzem gingen Sie davon aus, dass die beiden Politiker die Schweiz links liegen lassen würden. Nun kommen sie doch. Warum?Da habe ich mich getäuscht. Eventuell nutzen sie einfach die Gelegenheit, weil sie halt schon in der Nähe waren.
Weichen sie den deutschen Protesten aus?Das glaube ich nicht. Es geht tatsächlich in erster Linie darum, dort, wo viele türkische Staatsbürger leben, möglichst viele zum Abstimmen zu bewegen.
In der Schweiz liegen die Präferenzen aber anders als in Deutschland. Hier ist die Opposition doch stärkste Kraft.Die AKP kam 2015 auf Platz 2 in der Schweiz. Das sind immer noch über zehntausend Wähler.
Rechnen Sie mit Gegendemos in der Schweiz, wenn es denn zu Auftritten kommt?Das kann ich schlecht abschätzen. In Deutschland blieben die Proteste verhältnismässig gering, obwohl es auch dort eine substanzielle Opposition gibt. Möglicherweise will man der AKP nicht noch mehr Resonanz bieten.
Sind solche Auftritte ein Sicherheitsrisiko?Bis jetzt waren sie es nicht, und sie waren es auch in der Vergangenheit bei den Auftritten für die Wahlen im Jahr 2015 nicht. Damals trat der frühere Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in der Schweiz auf. Die Veranstaltung ging völlig unproblematisch über die Bühne. Erst das Aufheben, das dieses Mal um die Auftritte gemacht wird, führt nun zu solchen Problemen.
Der Bundesrat hält es nicht für nötig, Propagandaauftritte zu untersagen. Dann teilen Sie dessen Einschätzung?Der Bundesrat verhält sich sehr angemessen, um in dieser Situation die Polarisierung nicht noch voranzutreiben. Freilich müssten die Behörden reagieren, falls es tatsächlich zu Konflikten käme. Aber mit Blick auf vergangene Anlässe ist es vielleicht besser, die jetzigen Auftritte nicht überzubewerten und nicht mehr Wind darum zu machen als nötig. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich in der Türkei auch die Opposition gegen solche Auftrittsverbote im Ausland wehrt.
Der Bundesrat hätte sich zumindest verbal von der Machtanmassung Erdogans, um die es am 16. April geht, distanzieren können. Das unterliess er. Haben Sie dafür Verständnis?Man kann sich fragen, ob eine solche Stellungnahme in der jetzigen Situation überhaupt nützlich wäre. Eventuell würde man die Stimmung nur anheizen und der AKP in die Hände spielen, die jede Kritik aus Europa ausschlachtet. Die Haltung des Bundesrats gegenüber den Vorgängen in der Türkei ist ja sowieso klar.
Mit welchem Resultat rechnen Sie denn am 16. April?Unter normalen Umständen wäre ein Nein zum Präsidialsystem durchaus möglich. Es gibt ja auch Zweifel innerhalb der AKP. Und die Opposition spricht sich strikt dagegen aus. Aber die Situation ist alles andere als normal zurzeit, darum wage ich keine Prognose. Das Referendum findet unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt. Die Medien sind zu grossen Teilen unter Regierungskontrolle. Unter diesen Umständen kann es keinen fairen Abstimmungskampf geben.
Kann man denn mit fairen Bedingungen rechnen für die eigentliche Abstimmung?In der Vergangenheit sind Abstimmungen und Wahlen weitestgehend fair abgelaufen. Bisher war es auch ein wichtiger Teil von Erdogans Legitimation, dass er sämtliche Plebiszite gewann. Wenn nun dieses Mal sichtbar gefälscht würde, hätte das möglicherweise Konsequenzen für diese Legitimation. Aber ich möchte nicht ausschliessen, dass es zumindest auf lokaler Ebene zu Unregelmässigkeiten kommen könnte.
Sie halten sich gegenwärtig in Deutschland auf. Wie sieht dort die öffentliche Meinung aus, nachdem einige Auftritte der türkischen Politiker verboten worden sind?Die Situation ist wesentlich aufgeregter als in der Schweiz. Die Öffentlichkeit spricht sich gemäss Umfragen dafür aus, dass solche Auftritte unterbunden werden sollen. Die deutsche Regierung befindet sich da etwas im Dilemma, weil sie die Gespräche mit der Türkei nicht abreissen lassen will und auch nicht zusätzlichen Stoff liefern möchte für den Abstimmungskampf der AKP.
Wie reagiert die türkische Diaspora?Die sowieso schon starke Polarisierung der türkeistämmigen Bevölkerung spitzt sich weiter zu. Etliche Fans von Erdogan wählen ihn als starken Mann, der Europa die Stirn bietet, über den Inhalt der Vorlage sind sie sich gar nicht im Klaren. Sie lassen sich von ihren eigenen Diskriminierungserfahrungen leiten. Angehörige der Opposition oder von Minderheiten wie den Kurden sind teilweise ziemlich eingeschüchtert. Der Konflikt prägt den Alltag: Es gibt Berichte, dass Anhänger der unterschiedlichen Lager bei der Arbeit nicht mehr miteinander sprechen. Sogar Familien spaltet das bevorstehende Referendum.
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