«Die wenigsten lassen sich halt gerne stechen»
Die Grippe grassiert in diesen Tagen. Grippeimpfung und Impfkampagnen des Bundes sind umstritten. Daniel Koch, Arzt und Chef der Abteilung ansteckende Krankheiten im Bundesamt für Gesundheit, verteidigt sie.

Als oberster Epidemiewarner können Sie uns das sicher sagen: Haben wir nun wie befürchtet eine besonders starke Grippewelle?
Daniel Koch: Der Anstieg der Grippefälle begann in dieser Saison aussergewöhnlich früh, bereits Anfang Dezember, und die Kurve stieg sehr steil an. Verglichen mit den Dezembern der letzten Jahre waren überdurchschnittlich viele Menschen gleichzeitig krank. Das sind eigentlich Hinweise darauf, dass die Grippewelle heftiger wird als in anderen Jahren. Doch nun gehen die Fälle seit einigen Tage bereits wieder leicht zurück.
Das heisst, das Schlimmste ist nun doch schon vorbei?
Es sieht danach aus. Es würde bedeuten, dass die Grippewelle dieses Jahr doch nicht besonders gross war, sondern nur durchschnittlich. Doch die Saison ist noch nicht vorbei, und Grippeviren sind immer für Überraschungen gut. Ich würde also noch nicht definitiv Entwarnung geben.
Sind Sie persönlich von der Grippe eigentlich verschont worden?
Ja.
Man darf wohl davon ausgehen, dass Sie sich in Ihrer Vorbildfunktion gegen die Grippe impfen?
Ja, ich impfe mich seit Jahren immer vor Saisonbeginn.
Dann könnte die Impfung bei Ihnen tatsächlich gewirkt haben. Wissenschaftlich ist ja umstritten, wieweit der Impfstoff überhaupt nützt.
Die Impfung ist eindeutig der zuverlässigste Schutz, den wir gegen die Grippe haben. Klar ist aber auch, dass sie nicht immer und nicht bei allen Personen-gruppen gleich gut wirkt.
Gerade bei älteren Menschen wirkt sie gemäss einer grossen, breit anerkannten Studie kaum. Die Stiftung Warentest bezeichnet die Impfung für über 60-Jährige gar als «wenig sinnvoll». Warum animiert der Bund ältere Menschen, sich trotzdem impfen zu lassen?
Für ältere Menschen ist die Grippe besonders gefährlich. Aber es stimmt leider, dass sie gerade bei diesen Menschen, aus verschiedenen Gründen, nicht gut wirkt. Wir empfehlen sie ihnen trotzdem, weil sie das einzige Gegenmittel ist, das wir haben. Umso wichtiger ist es, dass das Umfeld, beispielsweise das Pflegepersonal, geimpft ist, sodass ältere Menschen möglichst gar nicht in Kontakt mit dem Virus kommen.
Die Stiftung für Konsumentenschutz tut das Gegenteil von Ihnen: Sie bestärkt das Pflegepersonal darin, sich nicht impfen zu lassen. Handeln die Konsumentenschützer in Ihren Augen verantwortungslos?
Die Organisation muss selber wissen, wessen Interessen sie vertritt und was sie empfiehlt. Wir haben die Verantwortung für die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung. Und es ist über alles gesehen unbestritten, dass die Grippeimpfung ein wichtiges Mittel ist im Kampf gegen die nicht harmlose Krankheit.
Nur 20 Prozent des Gesundheitspersonals lassen sich impfen. Wie erklären Sie sich, dass die Impfrate* sogar beim Gesundheitspersonal so tief ist?
Es stimmt, die Impfrate beim Pflegepersonal ist tief. Nach der Schweinegrippepandemie 2009 ist sie sogar gesunken. Mittlerweile ist sie wieder leicht angestiegen. Es dürfte verschiedene Gründe für die tiefe Impfrate geben. Zum einen lassen sich halt die wenigsten gerne stechen.
«Eine sehr viel höhere Impfrate bei der Grippe wäre sinnvoll. Erst dann könnten wir die Grippewelle beeinflussen.»
Aber gerade für medizinische Fachleute kann doch das kein Argument sein?
Der Entscheid, sich impfen zu lassen oder eben nicht, ist nie nur ein Kopfentscheid, das Gefühl spielt immer mit, das gilt auch für das Gesundheitspersonal. Vor allem beim Pflegepersonal gibt es wohl viele, die sagen, dass sie auch das Recht hätten, einmal krank zu sein. Dieses Recht haben sie auf jeden Fall. Vielleicht ist die Grippe für Menschen in Gesundheitsberufen einfach nicht gerade die beste Wahl, dieses Recht auszuüben.
Konsumentenschützer argumentieren, statt in schlecht wirkende Grippeimpfungen würde man das Geld besser in die Spitalhygiene investieren, welche viel mehr Todesopfer fordert.
Man soll das eine tun und das andere nicht lassen. Spitalhygiene ist tatsächlich auch sehr wichtig . . .
Doch für alles reicht das Geld im Gesundheitswesen vermutlich nicht. Wie viel kostet es eigentlich, die Bevölkerung zu impfen?
Das haben wir nie ausgerechnet. Das ist aber nicht entscheidend. Denn auch ohne zu rechnen, ist klar, dass durch die Impfung trotz der beschränkten Wirkung, ein Vielfaches von dem eingespart wird, was wir für die Impfung ausgeben.
Bei den Masern hat der Bund erreicht, dass sich rund 93 Prozent der Bevölkerung impfen. Ist eine solche Rate auch bei der Grippeimpfung Ihr Fernziel?
Bei der Grippe ist die Ausgangslage anders: Die Masernimpfung empfehlen wir für die ganze Bevölkerung, weil die Masern bei einer sehr hohen Impfquote ausgerottet werden können. Beim Grippevirus dagegen ist eine Elimination undenkbar. Darum hat hier die Durchimpfung der Bevölkerung nicht dieselbe Priorität.
Aber Hand aufs Herz: Sie als überzeugter Impfbefürworter wünschten sich auch bei der Grippe eine Impfrate von über 90 Prozent.
Eine sehr viel höhere Impfrate bei der Grippe wäre sinnvoll. Erst dann hätten wir einen merkbaren Einfluss auf den Verlauf der saisonalen Grippewellen. Zurzeit haben wir den leider definitiv nicht.
Der Konsumentenschutz kritisiert, der Bund setze ungeimpfte Pflegende gesellschaftlich unter Druck, indem er sie für den Tod anderer verantwortlich mache. Nehmen Sie den Angehörigen des Pflegepersonals nicht die Freiheit, zu entscheiden, was sie für ihren Körper gut finden?
Das Gesetz besagt sogar ausdrücklich, dass jeder für sich entscheiden kann, ob er sich impfen lassen will oder nicht. Aber ich glaube nicht, dass man von Druck oder Freiheitsberaubung reden kann, wenn wir von der Behörde versuchen, die objektiven Informationen breit zu streuen, um die Bevölkerung aufzuklären. Zuweilen enthalten aber auch objektive Informationen missionarische Botschaften. So hebt der Bund regelmässig die volkswirtschaftlichen Kosten hervor, die dicke Menschen verursachen. Ohne Bekehrungsabsicht kommt eine Behörde doch gar nicht auf die Idee, so etwas auszurechnen?
Es gibt heute die Verpflichtung dazu, die Menschen aufzuklären. Der Arzt hat die Pflicht, seinen Patienten zu sagen, woran sie wirklich leiden. Und wir haben die Pflicht, der Bevölkerung zu sagen, woran sie leidet. Dabei sind wir aber sehr darauf bedacht, niemanden zu diskriminieren.
Wie genau?
Beispielsweise bei HIV war ja das Risiko anfänglich gross, dass die Betroffenen ihre Arbeit verloren oder auf andere Weise ausgegrenzt wurden. Das Bundesamt für Gesundheit hat von Anfang an gegen solche Ausgrenzungen gekämpft. Heute kommt es glücklicherweise bei HIV nur ganz selten zu solchen Ausgrenzungen.
Dafür werden nun Dicke diskriminiert, indem man ihnen vorhält, sie verursachten der Allgemeinheit nur Kosten.
Ich denke, die Bevölkerung will zwar einerseits wissen, welche Kosten durch Übergewichtige verursacht werden. Doch das ist nicht der Hauptaspekt. In erster Linie wollen wir ihnen sagen, ihr seid glücklicher, wenn ihr gesund lebt, und wenn ihr krank seid, wird die Gesellschaft euch unterstützen, unabhängig davon, ob die Krankheit nun teils selbst verschuldet ist oder nicht.
«Stellen Sie sich vor, es fällt plötzlich ein Drittel der Arbeitstätigen aus.»
Anderes Thema: Sars, Ebola, Schweinegrippe, Zika . . . Vor welcher grossen Epidemie, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen könnte, fürchten Sie sich am meisten?
Nach wie vor wäre der Ausbruch einer grossen Grippepandemie – sei es die Vogelgrippe oder eine andere – eines der schwierigsten und gefährlichsten Szenarien, weil man weiss, dass diese Viren eine unheimlich schnelle Ausbreitung haben können. Darauf müssen wir auch heute noch vorbereitet sein.
Die Schreckensszenarien der Gesundheitsbehörden sind bis jetzt nie eingetroffen, weder bei der Schweinegrippe noch bei der Vogelgrippe.
Das stimmt, trotzdem können wir es uns nicht leisten, beim nächsten Mal nun die Arme zu verschränken und zu hoffen, dass es auch diesmal wieder glimpflich abläuft.
Die Warner berufen sich stets auf die Spanische Grippe von 1918, welche 25 Millionen Todesopfer gefordert hat. Heute ist die Situation jedoch völlig anders. Ist eine so tödliche Grippe tatsächlich noch möglich?
Die Verhältnisse sind tatsächlich anders. Einerseits haben wir unvergleichbar bessere Hygienebedingungen und befinden uns auch nicht am Ende eines Weltkrieges.
Aber?
Andererseits hat es noch nie so viele Nutztiere und vor allem noch nie so viele Menschen gegeben, die in Grossstädten dichtest aufeinander leben. Die moderne Gesellschaft ist in vieler Hinsicht verletzlicher geworden. Stellen Sie sich vor, es fällt plötzlich ein Drittel der Arbeitstätigen aus, die Stromversorgung kann nicht mehr aufrechterhalten werden oder die Spitäler sind voll von Grippekranken, aber es ist kaum noch Personal da. Bei der Sars-Pandemie vor zehn Jahren sind solche Schreckensszenarien in einigen Grossstädten wie Hongkong oder Toronto Realität geworden. Die Bevölkerung dort ist traumatisiert, sie hat nun massiv in Notsysteme investiert.
Nach dem Vogel- und später dem Schweinegrippe-Fehlalarm haben die Gesundheitsbehörden viel Glaubwürdigkeit verspielt. Wird die Bevölkerung beim nächsten Mal die Warnungen noch ernst nehmen?
Die Glaubwürdigkeit hat gelitten. Und wir haben Fehler gemacht in der Beurteilung. Aber wir können es uns nicht leisten, beim nächsten Mal einfach nichts zu tun.
Was werden Sie beim nächsten Mal besser machen?
Wir werden versuchen, noch vorsichtiger zu kommunizieren und mit den Vorhersagen zurückhaltender zu sein. Aber wir werden trotzdem klare Warnungen aussprechen, wenn drohende Gefahren am Horizont erscheinen. Das ist unser gesetzlicher Auftrag, und den nehmen wir sehr ernst.
* Die Grippeimpfquote der Schweizer Gesamtbevölkerung wird nicht erhoben. Aufgrund der jährlich verkauften 1,1 Millionen Impfdosen kann davon ausgegangen werden, dass sie rund 14 Prozent beträgt.
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