Ist diese Opferrolle, in der sich viele Muslime sehen, nicht etwas einfach? Der Westen bietet Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Der grösste Teil der ausländischen IS-Krieger stammt aus dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten. Es sind ehemalige Soldaten oder ehemalige Kämpfer. Sie suchen eine Arbeit und haben oft keine andere Wahl, als bei bewaffneten Gruppierungen anzuheuern. Die Anhänger des IS aus dem Westen, welche die von Ihnen erwähnten Werte täglich erleben, sind spezielle Fälle.
Inwiefern?
Sie sind auf Abenteuer aus und fallen einer Gehirnwäsche zum Opfer. Sie denken, der Kampf für den IS sei wie ein Computerspiel, nur eine Stufe realistischer. Die Europäer sprechen eher auf diese jihadistische Coolness und diesen Pop-Jihad an, welche der IS gezielt im Internet bewirbt. Sie werden aber schnell mit der brutalen Realität konfrontiert, sobald sie sich im IS aufhalten. Sie merken dann, dass sie angelogen worden sind.
Wir haben eher den Eindruck, dass sich Leute mit verbrecherischer Veranlagung vom IS angezogen fühlen, um ihre mörderische Neigung ausleben zu können. Dieser Menschenschlag konnte sich auch im Nationalsozialismus ausleben.
Der IS unterscheidet sich von den Nazis dadurch, dass er religiöse Perspektiven bietet. Kriminelle können Erlösung finden, indem sie dem Propheten und Allah dienen. Der IS behauptet zudem, der Westen sei gegen alle Muslime auf der Welt. Es brauche deshalb eine Art muslimisches Friedenskorps, das etwa syrischen Flüchtlingen helfe und gegen vom Westen unterstützte arabische Unrechtsregimes vorgehe. Diese Aussicht auf humanitäre Arbeit zieht viele Menschen an. Für muslimische Jugendliche, die einen Unterschied machen wollen, tönt das nach einer bedeutungsvollen Alternative zum bewaffneten Kampf.
Was hat Sie dazu gebracht, sich mit Terrorismus zu beschäftigen?
Als ich zwölf Jahre alt war, bin ich im Zentrum der US-Stadt Milwaukee zum ersten Mal in meinem Leben einem Neonazi begegnet. Er hatte ein Hakenkreuz auf den Arm tätowiert und verteilte rassistische «White Power»-Flugblätter. Das hat mich schockiert. Und es hat dazu geführt, dass ich ein politisches Bewusstsein dafür entwickelte, dass es böse Menschen gibt, die einen Keil zwischen die verschiedenen ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen treiben wollen. Das hat den Anstoss gegeben, dass ich später in Genf meine Dissertation über Rechtsextremismus geschrieben habe.
Für Ihre Forschung müssen Sie vermutlich die Gewaltpropaganda des IS anschauen. Wie gehen Sie damit um?
Ich lasse diese Bilder abends symbolisch im Büro zurück. Ich nehme die Gewalt nicht mit nach Hause.
Und das gelingt Ihnen?
Ich vermeide es, die grauenhaftesten Videos anzuschauen. Wenn ich mir diese ansähe, würden die Terroristen gewinnen. Es genügt, darüber zu lesen. In diesem Bereich der Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus versagen wir. Das US-Aussenministerium versuchte, extreme Gewalt mit extremer Gewalt zu kontern. In einem gefälschten Rekrutierungsvideo heisst es: «Willkommen im IS-Land». Dort lerne man Köpfe abzuschneiden und Leute zu kreuzigen. Damit nutzten die US-Behörden dieselben widerlichen Propagandadrehbücher wie der IS. Das ist falsch. Man sollte sich nicht auf das Niveau des IS hinunterbegeben.