«Schon Sokrates graute es im Supermarkt»
Der Sprachwissenschafter Klaus Bartels aus Kilchberg versammelt in seinem neusten Buch Texte von antiken Autoren, die noch immer hochaktuell sind. Da geht es zum Beispiel um Warenkult, Konsumrausch und Nachhaltigkeit.
Mit Klaus Bartels sprach Sibylle Saxer Unsere Gegenwart ist eine äusserst interessante Zeit. Das alltägliche Leben hat sich wohl noch nie so rasch und so stark verändert wie in den letzten hundert Jahren. Und was noch weit über alles Interessante hinausgeht: Weite Teile der Welt geniessen heute einen verlässlichen Frieden; es gab wohl noch nie in der Geschichte so wenige Kriege. Ja, es liegt mir daran, diese antiken «Jahrtausendworte» buchstäblich zu präsentieren. Zu zeigen, dass sie auch nach zwei, drei Jahrtausenden noch aktuell sind und uns auch heute noch unmittelbar ansprechen. Mit dieser Zitatensammlung möchte ich die Leser sozusagen in ein Spiegelkabinett der Zeiten einladen: die Antike aus der Perspektive der Gegenwart zu sehen, aber auch die Gegenwart aus der Perspektive der Antike zu betrachten. Die Probleme sind neu, aber viele Ideen, die uns heute leiten, sind alt. Im 4. Jahrhundert v. Chr. ist zum Beispiel erstmals der Gedanke einer Weltbürgerschaft aufgekommen und zugleich damit die Idee einer weltweiten Verantwortung aller Menschen füreinander, ja auch für die zukünftigen Generationen. Wie äusserte sich das? Im Kapitel «Global Village» habe ich ein Cicero-Zitat aufgenommen: «. . . und da ja der berüchtigte Spruch derer als unmenschlich und geradezu verbrecherisch gilt, die sagen, sie hätten nichts dagegen, dass nach ihrem Tode über alle Länder der Weltbrand hereinbreche, so trifft gewiss auch die umgekehrte Verpflichtung zu: dass wir auch für die Generationen, die in Zukunft einmal leben werden, um ihrer selbst willen Vorsorge treffen müssen.» Das haben griechische Philosophen des 3. Jahrhunderts v. Chr. so postuliert; aber taugte das nicht auch zum Leitwort für jede Weltklimakonferenz von heute? In Griechenland war das 4. Jahrhundert v. Chr., in Rom war das 1. Jahrhundert n. Chr. eine Zeit des Überflusses. Darum sprechen uns viele zeitkritische Texte aus diesen Zeiten so sehr an, etwa wenn Seneca sich über allerlei Gesellschaftszwänge und Modertorheiten auslässt. In seinem Text geht es darum, dass der Mensch in all dem Überfluss um ihn herum seine innere Unabhängigkeit bewahrt, dass er sich nicht an die Dinge, die er besitzt, verliert. Es heisst da am Schluss: «Wir wären unser, wenn diese Dinge nicht unser wären.» Hand aufs Herz: Haben wir das Smartphone, oder hat das Smartphone uns? Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, haben die alten Worte im Hinterkopf schon eine Art von Depotwirkung. Ich denke öfter an ein stilles Wort des alten Sokrates. Der soll öfter, wenn er in Athen über den «Mega-Markt», also den «Supermarkt», ging, mit dem Blick auf die Überfülle der angebotenen Waren im Stillen zu sich gesagt haben: «Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!» Da kann einem jeder unerbetene Weihnachtskatalog im Briefkasten zu einem unerschöpflichen Lustquell werden. Der Titel mag kühn anmuten, aber er trifft ja zu. Damit ehre ich die alten Denker, deren Worte uns über diese zwei, drei Jahrtausende hinweg so prägefrisch ansprechen. Eines dieser «Jahrtausendworte» gilt auch für diese Autoren und ihre Worte selbst: «Wer des Guten nicht mehr gedenkt, das ihm in seinem Leben geschehen ist, der ist an ebendiesem Tage alt geworden.»
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