Schau hin!
Der Horrorfilm «Hereditary» eröffnet einen Sommer der Angst: Wieso das Gruseln im Kino lustvoll ist – und was das zu bedeuten hat.

Diese Augen. Weit aufgerissen, das eine noch mehr als das andere. Die Pupillen fast unnatürlich verschoben. Dazu ein offener Mund, die Schreie sieht man, bevor man sie hört. Aber dann durchdringen sie einen, unerbittlich. Was diese Frau wohl sieht? Wollen wir es auch sehen? Ja? Nein? Ja?
Die Schreiende ist Toni Collette, Hauptdarstellerin in «Hereditary». Der Film macht seit Wochen Schlagzeilen in den USA, als «furchterregendster Horrorfilm seit Jahren». Von Kritikern wurde der Erstling des etwas über 30-jährigen Ari Aster gleich in die Reihe von Klassikern wie «Rosemary's Baby» und «The Exorcist» aufgenommen. Das geht in Ordnung, «Hereditary» ist tatsächlich ein Meilenstein. Er sprengt die Grenzen des Genres, ohne dabei auf unmittelbare Horrormomente zu setzen.
Im Gegenteil, der Film beginnt langsam, als Familiengeschichte: gehobenes Bürgertum, Villa im Birkenwald, bitte Schuhe ausziehen beim Eintreten. Im Zentrum steht die später schreiende Annie, deren ebenfalls im Haus wohnende Mutter gerade gestorben ist. Bei der Beerdigung hält sie die Rede und kann darin kaum verhehlen, dass ihr Verhältnis zur Verstorbenen schwierig war. «Sie war ziemlich reserviert», gehört zu den positiveren Dingen, die sie sagt. Aber jetzt ist Mama tot und hat ihre Geheimnisse und Gespenster mit ins Grab genommen. Denkste!
Noch ist es allerdings zu früh, um zu schreien. Schliesslich lebt Annie, die beruflich Modelle von Häusern und Landschaften herstellt, in geordneten Verhältnissen. Da ist ihr Mann, gespielt von Gabriel Byrne, der so traurig in die Welt schauen kann, dass man ihn ständig trösten möchte (oder verbirgt er etwa etwas?). Da ist der Sohn, beflissen und lethargisch, verschliesst sich stundenlang im Zimmer (also ganz normal für seine 17 Jahre). Und da ist die Tochter, voll in der Pubertät, spricht keine drei Worte, macht dazu aber das sonderbarste Gesicht, das man seit Jahren auf der Leinwand gesehen hat (auch solche 14-Jährige kennt man). Eine ganz normale Familie also, mit ihren ganz alltäglichen Eigenheiten. Aber dann . . .
Manche Filme enden für die Zuschauer nie
Wollen wir den Horror wirklich sehen? Das ist eine der ältesten Fragen der Kinogeschichte. Schon in den Anfängen, als der Film noch eine Art Jahrmarktattraktion war, fürchtete sich das Publikum zum Beispiel vor einem einfahrenden Zug und der Tatsache, dass dieser aus der Leinwand heraus die Anwesenden überfahren könnte. Klar dachte das niemand wirklich, aber man gab sich gerne der Illusion hin. Und bekam bald Lust am wohligen Gruseln. Die erste Verfilmung von Mary Shelleys Schauerroman «Frankenstein» gab es bereits 1910 als Stummfilm. Und 1922 drehte Friedrich Murnau mit «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» eine «Dracula»-Version, die heute noch Bestand hat.
Diese frühen Filme nährten das wohlige Gruseln, setzten expressionistisch auf Licht und Schatten, bescherten sanfte Gänsehaut. Für den ersten wirklichen Horror aber sorgten die Surrealisten. Luis Buñuel und Salvador Dalí eröffneten 1929 ihren halbstündigen «Un chien andalou» mit einer Szene, in der einer Frau mit dem Rasiermesser das Auge zerschnitten wird. Der Schock war gewaltig. Wollen wir das sehen? Ja, die Szene – gedreht wurde mit einem Kuhauge – wird bis heute diskutiert. Auch wenn im Augenblick des Schnittes wohl die meisten wegschauen.
Seither pendeln alle Horrorfilme zwischen diesen Polen. Es gibt die Schocker, bei denen man wie auf einer Achterbahn von Effekt zu Effekt geschleudert wird, nach «The End» ist alles überstanden und rasch vergessen. Und es gibt die Filme, die ihre Wirkung sanfter entfalten, zwar hier und dort auch auf Überraschungsmomente setzen, aber nicht primär das Publikum erschrecken wollen. Sie entwickeln ihren Horror nachhaltig, wirken dafür lange nach. Zu Ende sind sie manchmal nie.
So funktioniert «Hereditary». Es gibt zwar auch einen Schockeffekt, doch er kommt so unvermittelt, dass er schon fast als Parodie durchgehen könnte, wenn er nicht so ernst wäre. Aber dann wird langsam das ganze Spektrum des Genres aufgefahren. Spukt es im Haus? Sind die Familienmitglieder besessen? Wem von den helfenden Freunden kann man trauen? Kann man sich überhaupt noch auf jemanden verlassen?
Klar gibt es auch eine politische Lesart dieser Geschichte. «Hereditary» kann als Bild der heutigen USA verstanden werden, wo der Egoismus des Einzelnen über die Verantwortung für die Gesellschaft gestellt wird. Und wo die Sehnsucht nach einem Leader, und sei dieser noch so obskur, riesig ist. Auch wenn niemand weiss, wo das hinführen soll.
Der Schrecken spielt sich auf Collettes Gesicht ab
Horrorfilme sind selbstverständlich immer ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie entstanden sind: So können Zombies, wie sie George A. Romero erstmals 1968 in ihrer modernen Form präsentierte, unschwer als Kritik an der modernen Konsumgesellschaft verstanden werden, schliesslich wüten sie liebend gerne in Supermärkten. Und der Horrorfilm «Get Out», der es letztes Jahr bis zu den Oscars brachte, reflektiert die Situation Schwarzer in der weissen Gesellschaft.
Es kann deshalb kein Zufall sein, dass im Sommer noch einiges auf uns zukommt. Und zwar nicht nur mit Filmen wie «The Nun», einem Ableger aus der sehr erfolgreichen Okkultismus-Reihe «The Conjuring». Es gibt auch Neuinterpretationen von Klassikern wie «Halloween» (für den die damalige Scream-Queen Jamie Lee Curtis nochmals vor die Kamera tritt). Und ein Remake des Italo-Schockers «Suspiria» von Dario Argento, der jetzt von Luca Guadagnino («Call Me by Your Name») veredelt wird, selbstverständlich mit dessen Lieblingsschauspielerin Tilda Swinton.
Horror, so weit das Auge reicht also. Aber «Hereditary» hebt sich ab. Der Film erzählt das Schreckliche nämlich weniger durch das, was er zeigt. Er präsentiert es weitgehend über das Gesicht der schreienden Toni Collette. Das drückt alles aus, Entsetzen, Angst, Besessenheit. Wir lesen zuerst dieses Gesicht, um erst danach in die Realität des Bösen vorzustossen.
Wollen wir es sehen? Sicher. Und wenn wir dabei ab und zu die Augen schliessen, ist das kein Widerspruch. Sondern ein Kompliment.
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